4. April 1896 Der erste "Simplicissimus" erscheint
Sie machten sich über die verlogene Moral des Wilhelminischen Zeitalters lustig, von München aus, obwohl nur die wenigsten Literaten und Künstler aus Bayern kamen, die für die Satire-Zeitschrift "Simplicissimus" arbeiteten. Die erste Ausgabe erschien am 4. April 1896.
04. April
Montag, 04. April 2011
Autor: Xaver Frühbeis
Sprecher: Johannes Hitzelberger
Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung
In Bayern sind die Uhren immer schon ein wenig anders gegangen als da droben in Berlin. Der Kini ein kunstsinniger Monarch, das niedre Volk gemütlich, und fremdländische Kolonien - sowas hat man hierzulande eh noch nie gebraucht. Seit 1871 allerdings lebten die Bayern im Deutschen Reich. Und dessen Kaiser und seine Regierung waren von ganz anderem Schlag. Im Zeichen des Fortschritts haben sie aufgerüstet, haben ferne Länder annektiert und im eigenen auf Zucht und Ordnung gehalten. Den Bayern war das unverständlich, und viele im Land, die ähnlich dachten, Künstler und Literaten mit einem Hang zu kritischer Weltbetrachtung, sind hinabgewandert in den Süden und haben von München aus gegen den Ungeist der preußischen Regierung gezetert.
Allen voran: der Verleger Albert Langen, aufgewachsen in Köln, Verlag in Leipzig. Ihm war es ein Bedürfnis, hier, in München, eine große satirische Wochenzeitschrift herauszugeben. Eine Zeitschrift, mit der er das, was sich allzu ernst nahm in Deutschland, lächerlich machen konnte: heuchlerischen Klerus, dünkelhaften Adel, schnarrende preußische Offiziere, die verlogene bürgerliche Moral und die säbelrasselnde Politik Berlins. Langens Zeitschrift trug den Namen "Simplicissimus", nach Grimmelshausens Romanfigur, die mit ihrer grandiosen Naivität der Gesellschaft einen Spiegel vorhält. Symbol für die neue Freiheit des Denkens war das Wappentier der Zeitschrift: eine große, rote Bulldogge, die ihre Kette zerbeißt.
Die erste Ausgabe des "Simplicissimus" erschien am 4. April 1896, kostete zehn Pfennig und war ein Reinfall. Von 300.000 Heften wurden mindestens 299.000 wieder eingestampft. Aber Langen gab nicht auf und holte sich berühmte Leute ins Boot. Die Liste seiner Mitarbeiter liest sich wie ein "Who's Who" deutscher Vorkriegskunst. Unter den Autoren: Ludwig Thoma, Frank Wedekind, Gustav Meyrink und Rainer Maria Rilke. Autoren übrigens, von denen, mit Ausnahme von Thoma, keiner aus Bayern kam. Unter den Zeichnern: Bruno Paul, Alfred Kubin, George Grosz und Olaf Gulbransson. Sie haben dem "Simplicissimus" auch optisch eine progressive Note gegeben.
Der Zeitschrift ging es dennoch mehr schlecht als recht, bis, zwei Jahre später, 1898, etwas Großartiges geschah. Das Blatt wurde beschlagnahmt. Der Kaiser hatte sich durch einen Artikel persönlich beleidigt gefühlt. Langen, der Verleger, floh in die Schweiz, die Autoren Heine und Wedekind verurteilte man zu mehreren Monaten Festungshaft. Der Verkauf der Zeitung in preußischen Kiosken und Eisenbahnen wurde verboten, der "Simplicissimus" erhielt dadurch größte Aufmerksamkeit, und die Auflage stieg. Von da an hat es die Redaktion ganz bewusst darauf angelegt, beschlagnahmt zu werden, und im Jahr 1904 war man schon bei der stolzen Zahl von 85.000 verkauften Exemplaren. Dann aber kam der 1. Weltkrieg, und mit ihm das Ende der Erfolgsgeschichte. Im August 1914 nämlich verlor die Redaktion ihre Kritikfähigkeit. Deutschland zog in den Krieg, wer dazu nicht begeistert "Hurra" schrie, war ein vaterlandsloser Gesell, und vaterlandslose Gesellen wollten die Simplicissimus-Leute keinesfalls sein.
Und so lag nun die Bulldogge, zahnlos geworden, an der Kette kleinbürgerlichen Denkens. Langen selbst hat den geistigen Niedergang seiner Zeitschrift nicht mehr erleben müssen, er war bereits anno 1909 gestorben. Der "Simplicissimus", dieses Großereignis deutscher Publizistik, dümpelte noch einige Jahre vor sich hin, kam dann unter das Räderwerk der Nationalsozialisten und war, als der zweite Krieg zu Ende war, längst selig entschlafen.