9. Januar 1763 "Riesenkind" aus dem Bayerwald beerdigt
Der staunenden Öffentlichkeit wurde er als Riesenkind vorgeführt. Mit neun Monaten wog Johann Georg Mutz schon 60 Kilo. Kaum drei Jahre alt ist er geworden. Autor: Christian Feldmann
09. Januar
Montag, 09. Januar 2017
Autor(in): Christian Feldmann
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
In der kurfürstlichen Haupt- und Residenzstadt München war um das Jahr 1761 ein unerhörtes Spektakel zu sehen: Eine Bauersfrau aus Mimming bei Hengersberg stellte gegen ein entsprechendes Eintrittsgeld ihr Baby zur Schau. Das Publikum muss nach den vorliegenden Berichten in hellen Scharen herbeigeströmt sein. Flugblätter - die Boulevardzeitungen jener Zeit - verraten uns, warum: Der kleine Johann Georg Mutz, so heißt es da, "hat in der Zeit von 3 viertel Jahren dermassen an Leibs-Proportion zugenommen, daß er 1 Centen 7 Pfund gewogen".
…schaut nur an den kleinen Fleisch-Colossen!
Nach heutigen Begriffen sind das knapp 60 Kilo, ein stolzes Gewicht bei einem Lebensalter von neun Monaten. "Nunmehro ist er 1 Jahr und 8 Tag alt" geht es weiter im Text, "ist eine Bayerische Elle und ein Viertl lang", das sind immerhin 104 Zentimeter, "hat schon vier Zähne, ist an Gestalt und Farbe schön, wohl proportioniert, und von kirnigem Fleische, trinkt noch die Mutter-Milch, mit einem Wort, er ist als ein Wunder der Natur anzusehen."
Das Flugblatt zeigt uns das Riesenbaby auch in einer grafischen Darstellung, wie es pausbäckig, mit wulstigen Armen und Schenkeln, aber verhältnismäßig zarten Händen, auf einem Kissen sitzt und - wie das alle Säuglinge gern tun - mit einer Rassel spielt. Ein paar holprig gereimte Verse kommentieren dieses sonderbare Konterfei: "Wie wunderlich spielt doch zu Zeiten die Natur! / Zur Probe schaut nur an den kleinen Fleisch-Colossen. / Er ist recht Wunder-schön, und gleichsam eingestossen", das heißt "wohlgestaltet" nach damaligem Sprachgebrauch. "Von einem solchen Kind find man nicht leicht ein Spuhr."
Heimatforscher haben nichtsdestotrotz weitere Spuren von dem Riesenkind entdeckt, zum Beispiel im Beerdigungsbuch der Pfarrei Schwanenkirchen, zu der sein Heimatort Mimming gehört. Der arme Johann Georg Mutz ist nämlich nicht einmal drei Jahre alt geworden; am 9. Januar 1763 hat man ihn als ein "Wunder der Natur" zu Grabe getragen.
"So dick" sei der Bub gewesen, heißt es im Beerdigungsbuch schier begeistert, "daß ihn der Erlauchte Herzog von Bayern wiederholt zu sehen verlangte". Behinderte als Schauobjekte, das gehörte zu jenem ziemlich grausamen Zeitalter, dem aber unsere sensationssüchtige Epoche mit ihren Reality-Shows kaum viel voraus haben dürfte.
Kein Einzelfall
Der Mutz-Hof, wo der imposante Säugling geboren wurde, steht übrigens heute noch, an der Landstraße von Hengersberg nach Loh. Und man hat auch ermittelt, dass es damals im sogenannten Schweinach- und Quinzing-Gau, also im Gebiet um Hengersberg und Niederalteich, etliche solcher "Kolossalkinder" gegeben hat. Warum sich die schockierenden Vorfälle ausgerechnet dort häuften, weiß kein Mensch.
Der Untergriesbacher Kooperator Joseph Klämpfl etwa berichtet in einem 1831 erschienenen Buch von einer gewissen Anna Maria Kurz aus Waldmering, die von ihren offenbar recht geschäftstüchtigen Eltern an einen Schausteller verkauft wurde. Der zeigte das monströs schwergewichtige Kind auf Jahrmärkten in verschiedenen Ländern Europas, bis sich seine Spuren im französischen Bordeaux verloren.
Mediziner vermuten hinter solchen Phänomenen eine sehr seltene Erbkrankheit, nämlich das sogenannte Laurence-Moon-Bardet-Biedl-Syndrom, eine extreme kindliche Fettsucht aufgrund einer Genmutation, die zu einer Störung im Stoffwechsel führt.