9. Juni 1953 Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften tritt in Kraft
Am 9. Juni 1953 trat das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften in Kraft. Damals wusste man ziemlich genau, was obszön ist und deshalb die Jugend gefährdet. Autor: Thomas Grasberger
09. Juni
Freitag, 09. Juni 2017
Autor(in): Thomas Grasberger
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Die Auffassungen darüber, was obszön ist, gehen weit auseinander. Im US-Bundesstaat Wisconsin dürfen Kondome nur unter der Ladentheke verkauft werden, weil sie als obszön gelten. Im britischen Liverpool ist es sogar verboten, weibliche Schaufensterpuppen öffentlich zu entkleiden, weil Kinder Zeugen dieses angeblich obszönen Schauspiels werden könnten. Und in manchen Weltgegenden halten empfindsame Seelen sogar Häschenwitze für obszön. Der Begriff deckt offenbar ein weites Feld ab und ist daher nicht leicht zu fassen. Der Philosoph und Schriftsteller Ludwig Marcuse hat es dennoch versucht: "Obszön ist, wer oder was irgendwo irgendwann irgendwen aus irgendwelchem Grund zur Entrüstung getrieben hat. Nur im Ereignis der Entrüstung ist das Obszöne mehr als ein Gespenst." Sagt Ludwig Marcuse und führt in seinem Buch "Obszön – Geschichte einer Entrüstung" eine ganze Reihe von literarischen Skandalen auf: Von Friedrich Schlegels "Lucinde" über Gustave Flauberts "Madame Bovary" bis zu Henry Miller. Lauter Skandale. Lauter laute Rufe: "Ach wie obszön!"
Moralische Miefigkeit
Man könnte gewiss noch einige Fälle hinzufügen. Auch deutsche! Denken Sie nur an Arno Schmidt und seine Erzählung "Seelandschaft mit Pocahontas". Die brachte Schmidt 1955 prompt eine Strafanzeige ein, weil einige Dialoge angeblich den Tatbestand der Gotteslästerung und der Pornografie erfüllt haben sollen. Es war eben Adenauer-Zeit! Heute schmunzelt man gern über sie, war sie doch irgendwie auch putzig, diese Wirtschaftswunder-Wiederaufbau-Ära. Allerdings gibt es nicht wenige Zeitzeugen, die glaubwürdig versichern, dass sie nur schwer erträglich war in ihrer moralischen Miefigkeit und politischen Verlogenheit.
Jedenfalls fällt in diese so genannte Adenauer-Ära auch das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften.
Am 9. Juni 1953 ist es in Kraft getreten. Nach dem Vorbild der Schund- und Schmutzparagrafen der Weimarer Zeit hatten CDU/CSU es im Deutschen Bundestags vehement gefordert: "angesichts der die deutsche Jugend und die öffentliche Sicherheit bedrohenden Entwicklung gewisser Auswüchse des Zeitschriftenmarktes." Gemeint waren damit vor allem Comic-Hefte wie "Der kleine Sheriff", "Pecos Bill" oder "Tarzan". Über die beriet dann die neu geschaffene Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften.
Und kam zu dem Schluss, dass solche Comics auf Jugendliche "nervenaufpeitschend und verrohend wirken" und sie "in eine unwirkliche Lügenwelt versetzen". Derartige Darstellungen seien "das Ergebnis einer entarteten Phantasie".
"Entartet"!?
Die Wortwahl spricht Bände. "Entartet" ist ein Naziwort wie es im Buche steht, nämlich im Wörterbuch des Unmenschen. Aber das kümmert damals kaum jemanden; der Bundesprüf-Blick richtet sich nämlich vor allem auf menschliche Körper – wobei recht eng gefasst wird, was als pornografisch zu gelten hat. Ein zu kurzer Petticoat oder zu tiefer Ausschnitt sind da schon genug. Dass alte Nazis in höchsten Regierungsämtern viel jugendgefährdender und obszöner sind? Diese Idee kann sich in der Adenauer-Zeit noch nicht durchsetzen. Erst in den sechziger Jahren richtet die Bundesprüfstelle ihr Augenmerk zunehmend auf kriegsverherrlichende Schriften und Landser-Heftchen. Denn mit der steil ansteigenden Welle der sexuellen Revolution der Achtundsechziger-Generation lassen sich die rigiden Pornographie-Definitionen ohnehin nicht mehr halten.
Künftig widmet sich die Bundesprüfstelle also mehr der Darstellung von Gewalt. Bis heute. Denn mit der Entwicklung neuer Technologien hat sich auch dieses Angebot explosionsartig vermehrt. Angesichts von menschenverachtenden Ego-Shooter-Computerspielen wäre heute wohl jeder Prüfer und jede leicht empörbare ältere Dame heilfroh, wenn ihre Enkel nur nackte Schaufensterpuppen betrachteten.
Oder wenigstens Arno Schmidts "Seelandschaft mit Pocahontas" lesen würden.