21. Juni 1962 Die Schwabinger Krawalle beginnen
Ein Sommerabend in München, ein paar Jugendliche singen russische Volkslieder zur Gitarre. Eine Funkstreife rückt an. Kurz darauf brechen die sogenannten Schwabinger Krawalle los. Autorin: Prisca Straub
21. Juni
Mittwoch, 21. Juni 2017
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
21. Juni 1962, München Schwabing. Musik liegt in der Luft: Der Sommerabend ist lau, und ein paar Jugendliche mit akustischen Gitarren haben noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Man spielt russische Volkslieder und findet auf der Leopoldstraße bald ein paar Dutzend geneigte Zuhörer. Doch die Anwohner fühlen sich von den Straßenmusikanten in ihrer Nachtruhe gestört. Sie rufen die Polizei. Um 22.35 Uhr fährt laut Protokoll der erste Funkstreifenwagen vor. Die lässigen Lockenköpfe empfangen die uniformierten Beamten mit Pfiffen und Buhrufen. Von da an schaukeln sich die Ereignisse hoch: Es wird die erste von insgesamt fünf Nächten, in denen sich die Polizei durch die Münchner Innenstadt prügelt. Als "Schwabinger Krawalle" werden die Straßenkämpfe in die Annalen der bayerischen Landeshauptstadt eingehen - und zwar als ein besonders unangenehmes Kapitel: Es sind fünf Nächte, in denen die Obrigkeit zuschlägt, im Nachhinein aber selbst zu Kreuze kriechen muss.
Weltstadt mit Herz
Seit einem knappen Jahr steht die Berliner Mauer. Russische Volksmusik gilt von vorneherein als verdächtig. Schlimmer noch, wenn ein Durchsuchungsbefehl einen Samowar aus sowjetischer Produktion und etliche Bücher von Dostojewski zutage befördert. Und tatsächlich kommt es zu Hausdurchsuchungen, denn die Polizei muss ihren Masseneinsatz gegen die Handvoll singender Jugendlicher irgendwie rechtfertigen, die sie bis zum Morgen auf dem Revier festhält. Zu diesem Zeitpunkt ist die vermeintliche Ruhestörung längst zur Straßenschlacht geworden: Auf der Münchner Vorzeigemeile stehen Streifen mit zerstochenen Reifen. Statt unverstärkter Gitarrenmusik erfüllen hasserfüllte Sprechchöre die Leopoldstraße. Doch die als "Nazipolizei" beschimpfte Ordnungsmacht verteidigt verbissen den blockierten Grünstreifen. Gummiknüppel werden hervorgeholt. Es fliegen Steine und Flaschen. Verletzte gibt es auf beiden Seiten. Nur wenige Wochen zuvor hatte sich München in einem offenen Wettbewerb zur "Weltstadt mit Herz" gekürt.
In den folgenden Nächten trabt berittene Polizei durch friedlich in Straßencafes sitzende Menschen und zerstört Mobiliar. Sie verprügelt Unbeteiligte, Journalisten und den Chef des Münchner Jugendamts, der zwischen den Fronten vermitteln will. Und beide Parteien haben inzwischen Verstärkung erhalten: Die Beamten rücken in Hundertschaften an, Sympathisanten des Spektakels reisen sogar aus der Provinz an und lassen sich feucht-fröhlich auf dem warmen Asphalt nieder: In diesen Nächten geht man nach Schwabing wie zu einer Sommergaudi. Rund 40.000 Menschen sind in die Krawalle involviert. Im Personalausweis eines der zahlreichen Festgenommenen steht der Name Andreas Baader.
Reinigendes Gewitter
Doch dann ist der Spuk urplötzlich vorbei: Wolken ziehen auf und mit ihnen ein gewaltiger Gewitterregen. Was die Polizei Nacht für Nacht mit roher Gewalt nicht unter Kontrolle bekommen konnte, erledigt das Naturspektakel mühelos und in wenigen Minuten. Auf Seiten der Protestierer nimmt man das freilich mit Humor: An den Bäumen tauchen Zettel auf mit der Aufschrift: "Wegen schlechter Witterung fällt das Polizeisportfest heute aus."
Doch viel Zeit, sich von ihrer Schockstarre zu erholen, ist der Republik nicht vergönnt: Nur wenige Monate später kochen die Wogen erneut hoch: Die sogenannte Spiegel-Affäre kostet Verteidigungsminister Franz Josef Strauß seinen Job, und endgültig wird klar, die seit Kriegsende weise waltende Obrigkeit hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Das nächste Mal fliegen die Pflastersteine sechs Jahre später: 1968 kommt der nächste heiße Sommer.