29. Juni 1919 Ausstellung mit MERZbildern von Kurt Schwitters
"Merzen" hat Kurt Schwitters seine Kunstform genannt, mit der er aus "Splittern" wie Zeitungsausschnitten, Reklame, Gips, Drähten, Blechdosen, Nägeln und Wortfetzen Gesamtkunstwerke als "künstlerisches Weltverhalten" geschaffen hatte. Autorin: Gabriele Bondy
29. Juni
Montag, 29. Juni 2015
Autor(in): Gabriele Bondy
Sprecher(in): Ilse Neubauer / Ulf Söhmisch
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Frank Halbach
O-TON “Ursonate“ Kurt Schwitters
SPRECHERIN
Falls Sie, liebe Hörerinnen und Hörer bislang kaum etwas verstanden haben sollten, so geht es Ihnen wie dem Premierenpublikum von Kurt Schwitters "Ursonate" aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Das vornehme Publikum war in der Erwartung gekommen, eine Dichterlesung zu hören, und hatte sich bei einer Dame der Gesellschaft eingefunden. Kurt Schwitters trat im dunkelblauen Anzug auf und verbeugte sich vor den Versammelten. Dann öffnete er den Mund und sang, flötete, zwitscherte, röhrte, gurrte, fauchte, buchstabierte. Zunächst empörte Zurufe, verständnisloses Gelächter. Nur wenige begannen allmählich, die musikalische Struktur des Hörstücks zu verstehen.
Resteverwertung
SPRECHERIN
Kurt Schwitters. Ein Einzelkind mit geradezu angeborenem Hang zum Individualismus; auf jeden Fall eher phantasie- als kaufmännisch begabt. Beim Studium an der Königlichen Kunstakademie in Dresden traf Schwitters die Expressionisten und Begründer der “Brücke“, denen er sich aber ebenso wenig anzuschließen gedachte wie den Vertretern des “Blauen Reiter“ in München.
Den 1. Weltkrieg überlebte der zeitlebens Kränkelnde in der Schreibstube. Danach fand Schwitters zu seiner eigenwilligen Ausdrucksform - im Gegensatz zur eher destruktiven des Dadaismus zur konstruktiven: der “Merzkunst.“
Eine “Resteverwertung“ der unvergleichlichen Art.
ZITATOR
Aus Sparsamkeit nahm ich dazu, was ich fand, denn wir waren ein verarmtes Land. Kaputt war sowieso alles, und es galt, aus den Scherben Neues zu bauen.
"Merzen"
SPRECHERIN
Eine Technik, die Kurt Schwitters “Merzen“ nannte. Seine Materialien: Zeitungsausschnitte, Reklame, Straßenbahnfahrscheine, Gips, Holz, Drähte, Blechdosen, Nägel und Wortfetzen. So ist “Merz“ lediglich eine Silbe aus “Commerzbank“, die er in sein charakteristischstes, das “Merzbild“ - eingefügt hat.
Es entstanden Skulpturen, Collagen und Bilder ... Der Traum des Künstlers:
Merz als Gesamtkunstwerk, ein “künstlerisches Weltverhalten“, in dem die Grenzen fließend sind, nicht nur zwischen den einzelnen Kunstdisziplinen, sondern auch zwischen Kitsch und Kunst. Merz will Beziehungen schaffen...
ZITATOR
... am liebsten mit allen Dingen der Welt. So beherrscht Merz, was man nicht beherrschen kann.
SPRECHERIN
Die erste Ausstellung der Merzbilder am 29. Juni 1919 in Berlin geriet zum historischen Ereignis. Es liegt nahe, dass Kurt Schwitters von den Nationalsozialisten verfemt, seine Kunst als "entartet" bezeichnet wurde. Rechtzeitig flüchtete er mit seinem Sohn zunächst ins norwegische, dann ins englische Exil. Dort ist er auch gestorben. Seine "letzte Ruhe" hat er erst in den 70er Jahren in seiner Heimatstadt Hannover, im Familiengrab, gefunden. Über letzteres hatte Schwitters, der nie "Spezialist einer Kunstart" sein wollte, einmal ein Stück geschrieben - und auch, neben vielem anderen, das Gedicht "Anna Blume".
O-TON “Anna Blume“
O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich liebe dir! - Du deiner dich dir, ich dir, du mir. - Wir? Das gehört beiläufig nicht hierher.