6. Juni 1944 Bert Brecht geht ins Kino
Für Thomas Mann war es ein besonderer Geburtstag: Die Alliierten eröffneten mit dem D-Day eine Westfront gegen das Hitler-Regime. Bert Brecht, Thomas Manns Nachbar im kalifornischen Exil bekam davon erstmal nichts mit. Er saß erst im Kino und dann beim Schach, als ihn endlich ein Anruf von Hanns Eisler erreichte. Autorin: Justina Schreiber
06. Juni
Donnerstag, 06. Juni 2024
Autor(in): Justina Schreiber
Sprecher(in): Caroline Ebner
Redaktion: Frank Halbach
Mal angenommen, Bert Brecht wäre am Vormittag des 06. Juni 1944 über seinen Schatten gesprungen und hätte seinem persönlichen Klassenfeind telefonisch zum Geburtstag gratuliert. Dann wäre ihm die politische Neuigkeit des Tages schon Stunden eher zu Ohren gekommen. Aber Bert Brecht rief Thomas Mann eben garantiert nicht an, an dessen 69. Geburtstag, obwohl die beiden Schriftsteller damals im kalifornischen Exil fast Nachbarn waren und sich notgedrungen hie und da über den Weg liefen. Gemeinsame Freunde versuchten vergeblich, das "Scheusal" (so Mann über Brecht) und den "Stehkragen" (so Brecht über Mann) an ihre gemeinsame antifaschistische Überzeugung zu erinnern. Der gut 20 Jahre jüngere Bert Brecht und das – laut Brecht - "Reptil" Thomas Mann konnten sich trotzdem nicht ausstehen. An diesem 06. Juni 1944, der in die Weltgeschichte einging, kam der Stehkragen also gegen halb 9 Uhr morgens vom ersten Stock seiner Villa in Pacific Palisades die Treppe herunter. Die schwarze Haushälterin sang ihm ein Ständchen, die Gattin überreichte Geschenke, darunter einen Schlafrock und einen Armstuhl.
Eigentümliches Zusammentreffen
Dann klingelte hier zum ersten Mal an diesem doppelt bedeutsamen Tag das Telefon. Die Mitherausgeberin der "Washington Post" Agnes E. Meyer übermittelte dem Jubilar mit ihren Glückwünschen gleich auch "Breaking News": Die Invasion der alliierten Truppen an Frankreichs Westküste habe begonnen! Der D-Day, auf den die verfolgten Künstler des Hitlerregimes in ihrem kalifornischen Exil so lange gewartet hatten, war endlich gekommen! Exakt an Thomas Manns Geburtstag! "Eigentümliches Zusammentreffen" notierte der Nobelpreisträger später in seinem Tagebuch.
Aber erst einmal galt es Frühstück, Zeitungslektüre, weitere Telefonate, Post und diverse Besucher zu bewältigen, die neben Blumen erfreulicherweise auch "rar gewordene Cigarren" überreichten. Stoff für Konversation gab es jetzt ja genug: Spielte das Wetter über dem Ärmelkanal mit? Wie erbittert würden die Deutschen Widerstand leisten? Wann fiel Caen, wann Cherbourg? Wie gingen die Russen an der Ostfront nun weiter vor? Dazu vielleicht ein Stück Gebäck.
Lange Leitung
Für das "Scheusal", den kapitalismuskritischen Arbeiterdichter Bert Brecht dagegen, der nur 4 Kilometer vom Eigenheim des Stehkragens entfernt in Santa Monica zur Miete wohnte, bedeutete dieser Tag zunächst vor allem eins: er schloss fürs Erste die anstrengende Arbeit an seinem Drama "Der kaukasische Kreidekreis" ab. Am Nachmittag ging Brecht dann ins Kino, um sich den amerikanischen Kriegspropagandafilm "Memphis Belle" anzusehen. Währenddessen nahm man bei den Manns wohl gerade den Tee ein. Als sie gegen Abend zur Feier des Tages eine Flasche französischen Champagners köpften, saß Brecht "schon wieder" beim Schach. Ob mit oder ohne Zigarre, schien ihm nicht der Überlieferung wert; auch nicht wer sein Spielpartner war. Der Komponist Hanns Eisler kann es jedenfalls nicht gewesen sein. Denn Eisler sprach ja am anderen Ende der Leitung, als auch bei Brecht endlich das Telefon klingelte. So erfuhr er verspätet, dass heute beziehungsweise wegen der Zeitverschiebung mittlerweile eigentlich bereits gestern mit der Westfront ein zweiter wichtiger Kriegsschauplatz der Anti-Hitler-Koalition eröffnet worden war. Ob es Brecht wurmte, den Tag in Ahnungslosigkeit verbracht zu haben, muss offenbleiben.