13. Dezember 1902 Die längste Rede in einem deutschen Parlament
Bis heute hält Otto Antrick mit seiner Rede vom 13. Dezember 1902 im Reichstag des Deutschen Kaiserreiches den alleinigen Rekord für die längste Rede in einem deutschen Parlament. Übertreffen wird seine Redezeit von acht Stunden niemand mehr. Heute gilt als Richtlinie eine Redezeit von ca. 15 Minuten. Autorin: Stefanie Singer
13. Dezember
Dienstag, 13. Dezember 2022
Autor(in): Stefanie Singer
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
"Für mich ist es auch kein Vergnügen, dass ich mich hinstelle und mich stundenlang quäle", sagt Otto Antrick. Aber er macht es trotzdem. Mit einem dicken Papierstapel steht der SPD-Politiker am Rednerpult im Reichstag und beteuert: "Ich werde - solange meine physischen Kräfte ausreichen - diese Stelle nicht verlassen, Sie mögen machen, was Sie wollen." Die Abgeordneten tun das dann auch: sie rufen dazwischen, sie verlassen den Saal, sie kümmern sich um ihr Abendessen.
Reden bis zur Ohnmacht
Aber Otto Antrick lässt sich nicht beirren. Er will die Abstimmung über das Zolltarifgesetz verzögern und damit die Erhöhung der Getreidezölle verhindern. Anhand jeder einzelnen Position des Gesetzentwurfs erklärt er, warum. Nach vier Stunden sei der Redner bei Position 4 angelangt, heißt es in der Münchner Allgemeinen Zeitung. Die Menge der noch folgenden Positionen - genau 942 -, sei geeignet, "weniger robuste Naturen einem Ohnmachtsfall nahe zu bringen", findet der parlamentarische Berichterstatter der Zeitung.
In Ohnmacht fällt aber niemand, auch nicht, als Antrick antäuscht, mit seiner Rede am Ende zu sein: Er rafft seine Papiere zusammen, hebt seine Stimme, und die Abgeordneten strömen zurück in den Saal. Doch dann nimmt er nur einen großen Schluck Wasser und holt aus einem Briefumschlag weitere eng beschriebene Zettel hervor. Die Männer im Saal stöhnen auf und erliegen dem endlosen Redeschwall, während Antrick zur Stärkung Eiergrog gereicht wird. 8 Stunden wird die Rede an diesem 13. Dezember 1902 dauern - die längste Rede, die je in einem deutschen Parlament gehalten wurde.
Filibuster
Antrick ist mit dieser Verzögerungs-Taktik in guter Gesellschaft. Filibuster heißt die Ermüdungsrede heute - und einige Senatoren in den USA sind darin Profis. Während Antrick ermahnt wird, bei der Sache zu bleiben, können Dauerredner in den USA ohne Unterbrechung über alle möglichen Themen sprechen. Den Rekord hält der Demokrat Strom Thurmond. Er quasselt 24 Stunden und 18 Minuten am Stück, um den Civil Rights Act von 1957 zu verhindern und sich gegen ein Wahlrecht für Schwarze auszusprechen. Thurmond hat sich gut vorbereitet: er geht vor seiner Rede in die Sauna, um alle Flüssigkeiten aus dem Körper zu schwitzen. Und er lässt einen Eimer bereitstellen, damit er, falls er während der Rede doch mal muss, immer einen Fuß im Sitzungssaal behält. Während seiner Marathonrede liest Thurmond Wahlgesetze der US-Bundesstaaten vor und - für ein bisschen Unterhaltung - aus dem Rezeptbuch seiner Großmutter.
Im Deutschen Bundestag ist der Filibuster mittlerweile passé. Otto Antricks acht-Stunden-Rekord wird hier wohl niemand mehr einholen, denn man hat aus den Ermüdungsreden gelernt: Bereits 1922 wird im Reichstag eine maximale Redezeit von einer Stunde eingeführt. Und seit 1969 gilt der Grundsatz, dass ein Redner im Deutschen Bundestag nicht länger als etwa 15 Minuten sprechen sollte. Die genaue Aufteilung der Redezeiten folgt der sogenannten "Berliner Stunde", in der die Fraktionen anteilig nach Fraktionsgröße sprechen dürfen.
Schließlich findet auch Otto Antrick ein Ende. Um 00 Uhr 30 verlässt er unter Bravo-Rufen seiner Parteigenossen das Rednerpult. Aber trotz 8 Stunden Dauerrede kann er die Erhöhung der Zölle nicht abwenden. Das Gesetz wird um halb fünf Uhr morgens beschlossen und die 18-einhalbstündige Sitzung damit beendet. Antrick hat sich also ganz umsonst gequält.