10. Juli 1755 Lessings "Miss Sara Sampson" uraufgeführt
Als Lessing das erste Bürgerliche Trauerspiel schreibt, greift er tief in die Tragiktrickkiste: Liebe und Moral und überhaupt und alles. Plus: Und das ist das Neue: eine klare politische Botschaft. Autorin: Susi Weichselbaumer
10. Juli
Freitag, 10. Juli 2020
Autor(in): Susi Weichselbaumer
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Hingebungsvoll weinen – weil Liebe so schön ist! Zumindest für den, der zuschaut. Die vertrackte Liebe der Anderen, die zwischendrin gänzlich unerfüllte und dann erst am Ende vielleicht… Und wenn die dann auch noch – Achtung: ganz große Tragiktrickkiste – wenn die dann am Ende zwar, aber nur noch vereint ist im Tode!!!! Grandioses Kino. Top Theater!
Dachte sich auch der junge Gotthold Ephraim Lessing. Gerade 26 Jahre alt und eigentlich Medizinstudent sitzt er 1755 mit seinem Kumpel Moses Mendelssohn in einem französischen Stück. Bei Kollege Moses kullern die Tränen. Bei Gotthold Ephraim klingelt im Kopf schon die Kasse. Alte Weiber zum Heulen bringen, das könne er auch. Mendelssohn schnäuzt und hält dagegen. Die Wette gilt: In sechs Wochen will Lessing das rührendste Rührstück der bisherigen Dramengeschichte geschrieben haben. So erzählt es die Anekdote.
Tränendrüsen!!
Fakt ist: Tatsächlich legt Lessing das erste Bürgerliche Trauerspiel überhaupt hin. Und das ist schon Tragikkniff Nummer 1. Statt wie bis dahin gemäß französischer Theaterkonvention für Trauriges nur hohes Personal auf die Bühne zu bringen: Könige, Prinzessinnen, Adelige also zu verstricken in Ränke und Intrigen und Mord und Totschlag… Stattdessen macht Lessing die Bürgerstochter Miss Sara Sampson zur Hauptfigur seines gleichnamigen Dramas.
Und setzt gleich Tragikkniff Nummer 2 an: Nicht wie bei bisherigen Werken ist das Schicksal, sind höhere Mächte verantwortlich, für das, was passiert, sondern die Protagonisten selber. Und es passiert jede Menge. Selbstverschuldet. Und aus Liebe.
Ach…
Die soll es nicht geben zwischen seiner tugendhaften Tochter Sara und dem genusssüchtigen, an höfisches Leben gewohnten Libertin Mellefont, befindet Vater Sampson. Sara ist hin und hergerissen zwischen Moral, Anstand und wahrer Liebe. Für die brennt sie durch mit Mellefont. In einem Gasthaus steigen die beiden ab. Dort wartet schon seine Ex, die Marwood, samt Tochter und samt Rückeroberungsplan. Der zielt allerdings lediglich auf Lust und Leidenschaft. Früher mochte Mellefont das, heute ist er tugendhaft – Saras wegen. Und die will er auch gegen alle Standeskonventionen heiraten. Dagegen hat wiederum die Marwood etwas. Sie vergiftet Sara im Gasthaus. Garaus bedeutet das erst, als die sterbende Sara Frieden gemacht hat mit ihrem Vater, der nachgereist ist und plötzlich auch in der Gaststube steht. Weil er Mellefont doch als Schwiegersohn annehmen will. Mellefont weigert sich. Die sterbende Sara verzeiht ihm das. Auch der Marwood verzeiht sie noch eben. Mellefont verzeiht sich selber nichts und sticht sich den Dolch in die Brust. Dafür verzeiht Saras Vater wiederum beiden Kindern – und – Achtung: Tragigkniff Nummer 3 – organisiert ein gemeinsames Begräbnis: Ewige tugendhafte Liebe. Vereint im Grab.
Das bürgerliche Premierenpublikum am 10. Juli 1755 in Frankfurt an der Oder weint mit – durchgehend, dreieinhalb Stunden lang. Fühlt sich endlich verstanden von einem Theater, das menschlichen Edelmut genauso zeigt wie menschliche Schwächen. Und endlich mal ohne König, Prinz, Prunk, Protz auskommt. Lessing ist damit berühmt, das Genre des Bürgerlichen Trauerspiels begründet: Tränenreiche Theaterabende werden folgen. Ach, Liebe.