5. Dezember 1961 Lokführer flieht mit ahnungslosen Reisenden nach West-Berlin
Seit fast vier Monaten sind die drei West-Bezirke von Ost-Berlin schon getrennt. Da durchbricht Lokführer Harry Deterling am 5.12.1961 mit einem fahrplanmäßigen Personenzug die Grenze nach West-Berlin. An Bord: seine Familie, Freunde - und auch noch Menschen, die gar nicht fliehen wollten. Autorin: Prisca Straub
05. Dezember
Dienstag, 05. Dezember 2023
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Redaktion: Frank Halbach
Die Tarnung am Bahnsteig ist perfekt: Die Kinder tragen gewöhnliche Schulranzen, gefüllt mit Lieblingsspielzeug - und Bettwäsche. Die Erwachsenen: gewöhnliche Einkaufsbeutel. Jetzt geht es darum, sich möglichst unauffällig am Gleis zu verteilen. Eine Großfamilie mit Reisegepäck würde unweigerlich Argwohn erregen. Ehefrau Ingrid mit den vier Kindern, Mutter, Schwester und Schwager mit ihrem Neugeborenen. Außerdem: etliche Freunde und Bekannte - und alle geben vor, man kenne sich nicht. - Dann endlich: Harry Deterling fährt ein, Lokomotivführer im Dienst der Deutschen Reichsbahn und - Vater der Familie. Planmäßiger Halt: 19.33 Uhr, Bahnhof Oranienburg, nur wenige Kilometer nördlich der Berliner Stadtgrenze. Es ist der 5. Dezember 1961. Die Flucht nach West-Berlin hat begonnen.
Grenzdurchbruch mit Personenzug
Den Grenzdurchbruch mit einem regulären Personenzug hatte Harry Deterling akribisch vorbereitet: Gleisanlagen, Weichenführung, Grenzposten? Alles im Blick! Das Schlupfloch liegt auf der Transitstrecke für den Interzonenzug aus Hamburg. Vom letzten planmäßigen Halt vor der Sektorengrenze sind es nur noch wenige hundert Meter in den West-Berliner Bezirk Spandau. Vorsorglich hat Deterling den Druck in den Bremsleitungen abgesenkt. Die Notbremsen in den Waggons sind außer Kraft gesetzt.
Bis zur Anfahrt auf den Grenzbahnhof Albrechtshof läuft alles glatt. Dann meldet sich der Zugschaffner: Achtung! Verdächtige Geräusche in den Bremsleitungen! Doch statt langsamer zu werden, beschleunigt Harry Deterling jetzt noch, durchfährt das rote Stopp-Signal - und bricht mit über 70 Stundenkilometern durch die Grenzanlagen nach West-Berlin. Seine Familie samt Angehörigen hat sich da bereits auf den Boden geworfen und hinter dem Gepäck verschanzt.
Die übrigen Fahrgäste registrieren fassungslos, wie die DDR-Grenzpolizisten zur Seite springen. Doch es fällt kein einziger Schuss. - Nur der Schaffner reißt immer wieder vergeblich an der Notbremse.
Nicht alle wollten fliehen
Wenige hundert Meter jenseits der Grenze bringt Harry Deterling seinen Zug auf offener Strecke zum Stehen. Über 30 Menschen hat er auf West-Berliner Gebiet gebracht: Republikflüchtige ebenso - wie ahnungslose Reisende. Sieben von ihnen kehren auf der Stelle empört um: mit dem Zugschaffner an der Spitze zurück über die Gleise. - Unerhört! Man werde sich beschweren!
Schon am nächsten Morgen kappt die DDR die Schienenverbindung. Arbeitstrupps reißen die Gleise aus dem Bett. Fast 30 Jahre lang wird der Zug aus Hamburg jetzt einen Umweg nehmen müssen. Und Lokführer Deterling? Zwar findet er in Westdeutschland schnell eine neue Anstellung als Eisenbahner, doch die DDR macht ihm in Abwesenheit den Prozess. Die Angst vor der Rache der Stasi bleibt für ihn allgegenwärtig - und Polizeischutz eine selbstverständliche Begleiterscheinung seines Lebens. Ruhe findet die Familie erst mit dem Fall der Mauer.
Jetzt werden auch die herausgerissenen Gleise bei Albrechtshof wieder eingesetzt. Harry Deterling ist offizieller Ehrengast bei der Wiederaufnahme der Bahnverbindung Hamburg - Berlin.