Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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27. Juni 1905 Meuterei auf der Potemkin

Frühjahr 1905: Ein verlorener Krieg und die Wirtschaftskrise schüren Wut und Zorn bei der russischen Bevölkerung. Sie fordert bessere Lebensbedingungen - ein Wunsch den die Matrosen auf dem Kriegsschiff "Potemkin" teilen. Der Befehl Suppe aus verdorbenem Fleisch zu essen, bringt das Fass zum Überlaufen. Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 27.06.2023 | Archiv

27.06.1905: Meuterei auf der Potemkin

27 Juni

Dienstag, 27. Juni 2023

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Irina Wanka

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Am zweiten Januarsonntag 1905 drängen sich 200.000 Menschen vor dem Winterpalais in Sankt Petersburg. Sie hoffen auf Gehör beim Zar und möchten eine Bittschrift überreichen, die ihre Not zu seinen Füßen legt: "Wir hungern, großer Zar, wir frieren, wir werden von Guts- und Fabrikbesitzern gehalten wie Vieh und kommen, um bei dir Gerechtigkeit und Schutz zu suchen."

Gott zürnt dem Zaren

Aber das gute Väterchen mag keine Sonntagsbesuche und lässt seine Soldaten in die Menge schießen. Vier Monate danach fließt abermals Blut. Japan versenkt den Großteil der russischen Flotte im Gelben Meer. Wieder Tote, mehr als 9.000 diesmal, 50.000 Soldaten verwundet, abertausend verschollen. Der verlorene Krieg schürt Hunger, Teuerung, Elend und Zerfall. Aufstände erschüttern das Kaiserreich, in Armee und Marine glimmt Aufruhr. Jetzt sehen es alle: Gott hat seine Hand vom Zaren abgezogen, nun ist er sterblich und Rechenschaft schuldig.

Auch an Bord der Fürst Potemkin sind die Verwerfungen spürbar. Das Schlachtschiff ist zu Schießübungen ins Schwarze Meer abkommandiert und ankert östlich von Odessa. Eine Handvoll Offiziere hält 600 gereizte Matrosen mit brutaler Disziplin in Schach. Sinnloser Drill, ständige Kränkung, wenig zu essen, kaum Schlaf: die Stimmung ist hochexplosiv.

Am Morgen des 27. Juni 1905 zündet das Gemisch aus Hunger, Wut, Agitation und Demütigung. Auslöser ist das am Abend zuvor gelieferte Fleisch. Es stinkt. Stinkt faulig, wimmelt von Maden. "Genießbar", raunzt der Schiffsarzt, "nur ein paar Larven, stellt euch nicht an!"
Mittags schillern die schmierigen Brocken im Borschtsch. Niemand isst. Ein paar Teller landen auf dem Boden, andere fliegen in Richtung Kombüse.

Der Kapitän wird gerufen, zerknüllt erbost seine Serviette, lässt antreten: "Männer, esst, die Suppe ist gut!". Keiner rührt sich. Der Kapitän schwitzt. Das ist der gefährliche Moment. Jetzt muss er oben bleiben oder untergehen. Er befiehlt die Wache auf Deck, brüllt "Suppefassen", droht "Verweigerer werden gehängt!".

Rote Fahne

Einer tritt vor, die Augen gesenkt. Fast alle tröpfeln nach, nur dreißig zögern zu lange. Die sollen an der Reling vor angelegten Gewehren gereiht, für ihre Aufsässigkeit bezahlen. Plötzlich zieht einer der Matrosen eine Pistole. Ein Offizier schießt ihn nieder, ein Gewühl entsteht, wütende Seeleute entwaffnen das Exekutionskommando. Kurz darauf sind sieben Offiziere tot, die übrigen eingesperrt. Die Aufrührer bilden einen Matrosenrat, hissen die rote Fahne und beschließen, sich in Odessa mit revoltierenden Kräften zu verbünden.

Doch dazu kommt es nicht mehr. Die gesamte Schwarzmeerflotte jagt die Meuterer. Zwölf Tage dauert ihre Flucht, dann versenken die Verfolgten ihr Schiff im Hafen von Constanta und ergeben sich den rumänischen Behörden. Einige finden Asyl, die meisten werden ausgeliefert, hingerichtet oder ins Lager geschickt.

Der verfaulte Staat überlebt die durch verfaultes Fleisch entfesselte Revolte um weitere zwölf Jahre. Doch ohne die Generalprobe von 1905 hätte die Oktoberrevolution 1917 niemals gesiegt, schreibt Leo Trotzki später.


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