Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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28. Februar 1874 Roger Tichborne verurteilt, nicht Roger Tichborne zu sein

Roger Tichborne, ein britischer Adeliger, verschwindet 1854 auf See und wird für tot erklärt - ertrunken. Etliche Jahre später kehrt er überraschend zurück. Seine Mutter ist überzeugt: Das ist ihr Sohn! Die Erbengemeinschaft sieht das anders: ein Hochstapler! Autorin: Prisca Straub

Stand: 28.02.2025

28.02.1874: Roger Tichborne verurteilt, nicht Roger Tichborne zu sein

28 Februar

Freitag, 28. Februar 2025

Autor(in): Prisca Straub

Sprecher(in): Berenike Beschle

Redaktion: Frank Halbach

"Ganz eindeutig! Das ist mein Junge!" - 14 Jahre hatte Lady Tichborne ihren Sohn nicht mehr gesehen. Man hatte ihn schon für tot erklärt. Doch jetzt, hier in Paris… - ja! - das ist ihr Ältester! Etliche Kilo schwerer als Lady Tichborne ihn in Erinnerung hatte - und auch seine Muttersprache, Französisch, hatte er offenbar vergessen. - Doch, kann das nicht passieren bei einem schweren Trauma wie einem Schiffsunglück? Bei dem Roger um ein Haar ertrunken wäre!

Ein Metzger aus Wagga Wagga

Seitdem damals ihr 25-Jähriger auf See verschwunden war, hatte Lady Tichborne sich geweigert, den Tod ihres Sohnes auch nur in Erwägung zu ziehen. Zwar war sein Schiff 1854 auf der Reise nach Jamaica untergangen, und angeblich hatte es keine Überlebenden gegeben. Doch die Mutter hatte sich hartnäckig an Gerüchte gehalten, ein anderes Schiff habe die Ertrinkenden an Bord genommen und bis nach Australien gebracht. Lady Tichborne hatte eine Vermisstenagentur beauftragt, eine üppige Belohnung ausgeschrieben - und plötzlich war alles ganz schnell gegangen: Ein Metzger aus Wagga Wagga erklärte, Roger Charles Tichborne zu sein! - Sein Brief in die Heimat nach Paris war zwar voller Rechtschreibfehler - und der verlorene Sohn war doch ein gebildeter Adliger gewesen… Doch Lady Tichborne ließ sich nicht beirren: Die Sache war klar! Sie starb hochbeglückt, kurz nach dem Wiedersehen mit dem unkultivierten, pausbäckigen Heimkehrer, der ihr versicherte, den Schiffsuntergang im Karibischen Meer überlebt zu haben.

Kann ein Mensch sich so verändern?

Nur die aristokratische Erbengemeinschaft aus dem südenglischen Hampshire war da - anderer Ansicht. Die Familie zog gegen den sogenannten "Anwärter" vor Gericht - und der Metzger aus dem australischen Outback mit Anspruch auf Adelstitel und Tichborne-Ländereien machte Schlagzeilen: War "Sir Roger" der, für den er sich ausgab? - Und: Wie stark kann sich ein Mensch im Laufe des Lebens verändern? Der Rechtsstreit, der sich nun entrollt, wird enorm aufwendig: Über 200 Zeugenaussagen, der ehemalige Kinderarzt, ein Handschriftenexperte. Im Gerichtssaal späht ein zunehmend elektrisiertes Publikum durchs Opernglas und lässt sich kein Wort entgehen.

Nun, der Anwärter schürzt die Lippen genauso, wie die früheren Bediensteten es in Erinnerung haben. Doch über seine Ausbildung an einem englischen Elite-College weiß Sir Roger nicht das Geringste. Er verwechselt Latein mit Griechisch und kann Physik und Biologie nicht auseinanderhalten. Aber über Rogers Reise durch Südamerika weiß er haarklein Auskunft zu geben - in einem derben Cockney-Akzent, den der wahre "Sir" nie gehabt hatte. Am 28. Februar 1874 wird der Anwärter verurteilt: 14 Jahre Haftstrafe, von denen er zehn absitzt.

Für den Rest seines Lebens bestand er darauf, Roger Tichborne zu sein. Doch das öffentliche Interesse an ihm war erloschen. Er starb mittellos und wurde in einem anonymen Armengrab beigesetzt. Bei der Beerdigung lag eine Karte mit dem Namen "Sir Roger Charles Tichborne" auf seinem Sarg. Und genau dieser Name wurde auch ins Friedhofsregister eingetragen.


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