30. Mai 1910 Verhaltensforscherin Magdalena Heinroth stellt ihre Vogel-WG vor
Magdalena Heinroth musste zu Hause arg aufpassen, nicht auf Vögel zu treten. Sie wollte sämtliche Vogelarten Mitteleuropas von Hand aufziehen - unter Wohnzimmerbedingungen. Das Experiment, bei dem ihr vogelallergischer Mann Oskar jahrzehntelang assistierte, wurde ein voller Erfolg. Autorin: Prisca Straub
30. Mai
Montag, 30. Mai 2022
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Die Aufzucht von Nachtschwalben verlangt besondere Vorsicht. Lässt man sie in einer Berliner Altbauwohnung brüten, dann ziehen sie ihre Küken nämlich mitten auf dem Wohnzimmerteppich groß. Rund um die Uhr müsse man achtgeben, um nicht über die unscheinbaren Bodenbrüter zu stolpern, warnt Magdalena Heinroth. Auf dem Internationalen Ornithologen-Kongress am 30. Mai 1910 referiert die Zoologin über ihre einzigartigen Zimmerbeobachtungen einheimischer Jungvögel: Steinschmätzer, Grasmücke und Goldhähnchen von Hand aufziehen? Ein wirklich harter Job. Die tägliche Fütterung? Ab drei Uhr morgens. Und darüber hinaus ein beachtlicher Geräuschpegel: Der Gesang einer Nachtschwalbe erinnert an einen vorbeiknatternden Motorroller.
Küken im Blumentopf und kleine Missgeschicke
Aus der Ursprungsidee, seltene Singvögel zu züchten, wurde bald ein Mega-Projekt: Magdalena plant, sämtliche mitteleuropäische Vogelarten zu sich nach Hause holen. Sie will die Entwicklung und das Verhalten von frischgeschlüpften Nestlingen bis zum erwachsenen Vogel dokumentieren. In der Brutsaison von März bis September ist die Stadtwohnung der Heinroths erfüllt von Trillern, Sägen, Flöten, Krächzen und Schnarren. Auf dem vergitterten Balkon balzt ein Birkhahn. Ein Eisvogel-Küken haust im Blumentopf. Ein Kleinspecht hämmert so hartnäckig gegen die Zimmerdecke, bis der Stuck herunterrieselt. Und hin und wieder - ein Missgeschick: Der Zimmer-Freiflug für einen Sperber endet mit dem Tod eines Steinhuhn-Kükens. Und die robusten Trappgänse machen nicht nur unvorstellbar übelriechenden Dreck, Magdalena lässt sie sogar per Zeitungsannonce suchen, wenn sie mal wieder entkommen sind - diese "Sargnägel".
Vogelallergie und Luftnot
Von der winzigen Schwanzmeise bis zum imposanten Seeadler. Rund 300 Vogelarten.
Mehr als 1.000 Pfleglinge in knapp 30 Jahren. Ehemann Oskar Heinroth ist inzwischen zum Direktor des Berliner Aquariums befördert und geht mit dem Kranichnachwuchs in den Grünanlagen spazieren. Die Tiere lernen, Treppen zu steigen und drehen hin und wieder eine Runde um die Gedächtniskirche. Bald kommen Forscher aus der ganzen Welt, um die beispiellosen Szenen in der Dienstwohnung der Heinroths zu beäugen. Aus nächster Nähe. Wie die Paarung eines Wachtelkönigs. Auf dem Küchentisch. Im erlauchten Kreis der ornithologischen Gesellschaft. - Die Anerkennung ist riesig. Doch Oskar bekommt das Leben in der Vogel-WG immer schlechter. Er ist allergisch gegen den Gefiederstaub, den sich die Mitbewohner aus den Federn bürsten. Leidet unter Luftnot. Braucht nachts eine Sauerstoffflasche. Sonst findet er gar keinen Schlaf.
Am Ende steht ein gemeinsames vierbändiges Lebenswerk: "Die Vögel Mitteleuropas". Schwere Folianten mit tausendenden Fotos und detaillierten Erläuterungen. Ein gigantisches Nachschlagewerk, dessen Vollendung Magdalena Heinroth nicht mehr erlebt. Sie stirbt ganz plötzlich mit knapp 50. Oskar, der Allergiker, schließt das Werk ab. Und mehr noch:
Er bringt nicht nur das Berliner Aquarium - sondern auch die ganze Vogelmenagerie in der Dienstwohnung durch den Zweiten Weltkrieg.