24. Februar 2005 Wissower Klinken stürzen ins Meer
Lange waren sie einer der schönsten Punkte auf der Insel Rügen: die Wissower Klinken, eine Kreideformation im Nationalpark Jasmund. Bis am 24. Februar 2005 die beiden Hauptzinnen mit etwa 150 Tonnen Erdreich aus 40 Metern Höhe ins Meer rutschten. Von den zahlreichen Spaziergängern wurde gottseidank niemand verletzt. Autorin: Silke Wolfrum
24. Februar
Freitag, 24. Februar 2023
Autor(in): Silke Wofrum
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Dieses Kalenderblatt ist eine Hymne an die Natur. Wir schnüren dazu unsere Wanderstiefel, packen die Regenjacke ein und begeben uns auf die Halbinsel Jasmund im Nordosten von Rügen. Genauso so wie die 1,5 Millionen anderen Touristen, die jährlich die 15 Kilometer lange Steilküste im dortigen Nationalpark besuchen. Beschwingt laufen wir durch liebliche Buchenwälder über den Hochuferweg Richtung Wissower Klinken, den weltberühmten Eiweiß-Baiser-weißen Kreideformationen, die einst das Wahrzeichen von Rügen waren.
Noch nicht ...
Unterwegs wühlen wir eine Wegbeschreibung auf einem Touristen-Werbezettel aus unserer Tasche und entdecken darauf die Abbildung von Caspar David Friedrichs einzigartigem Gemälde "Kreidefelsen auf Rügen": Im Vordergrund drei Gestalten vor einem Abgrund, eine Frau in rotem Kleid, ein Mann mit spärlichem Haar am Boden, ein weiterer lehnt mutig kurz vor dem Abgrund an einem Baumstamm. Hinter ihnen bizarr spitz aufragende strahlend weiße Kreidefelsen und dahinter das blaugrüne unendliche Meer. Eingerahmt wird die Szenerie von zwei Bäumen, die miteinander fast so etwas wie ein Herz formen.
Herrliche Kunst zeigt herrliche Natur, nur sind es eben nicht die Wissower Klinken, wie lange angenommen, sondern die Säulen der so genannten "Kleinen Stubbenkammer", nicht weit entfernt. Denn: Die majestätischen Felsformationen der Wissower Klinken gab es damals, als Caspar David Friedrich mit seiner frisch vermählten Frau Caroline über Rügen spazierte, noch gar nicht.
Nicht mehr!
Genauso wenig, wie es sie heute, jetzt, da wir also endlich vor ihnen Halt machen, noch gibt. Die beiden berühmten Hauptzinnen der Wissower Klinken, die nach Caspar David Friedrichs Lebzeiten entstanden und dann jahrzehntelang tausende von Bewunderern zu sich zogen, sind futsch, verschwunden, einfach weg.
Als in der Nacht vom 24. zum 25. Februar 2005 ein starker Sturm an der Steilküste tobte, krachten sie mit einem Schlag ins Meer. 50 000 Kubikmeter Kreide wurden in die Ostsee gerissen, das Wahrzeichen von Rügen, es verschwand auf Nimmerwiedersehen.
Zwei Stumpen künden heute noch von dem, was zu Friedrichs Zeiten noch nicht und heute nicht mehr ist. Und dieses "Nichts" zeigt uns, was Natur eben ist: Unberechenbar, maistätisch, furchteinflößend, inspirierend und - vergänglich. Denn dass die herrlich weißen Spitzen ins Meer stürzten, war nicht die Folge eines menschlichen Eingriffs, keine menschliche Umweltsünde trieb die bis zu zwanzig Meter hohen Zinnen ins Meer, sondern innere Spannungen, Erosion, Feuchtigkeit, Frost und die Meeresbrandung. Es ging einfach natürlich zu.
Was bleibt ist die Erinnerung an sie, kunstvoll festgehalten auf einem Gemälde, das allerdings nur so ähnliche Felsformationen zeigt und hörbar gemacht in einer Symphonie, die anlässlich des Untergangs des beliebtesten Fotomotivs der Insel im Rügener Nationalpark gespielt wurde. Es ist die Symphonie Nr. 1 c-Moll von Johannes Brahms, der im Sommer 1876 an einen Freund schrieb: "An den Wissower Klinken ist eine schöne Sinfonie hängen geblieben."