Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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17. Februar 1920 Zarentochter Anastasia wird aus dem Berliner Landwehrkanal gefischt?

Die ganze Zarenfamilie wurde 1918 ermordet. Wirklich die ganze? Oder hatte eine Tochter etwa doch überlebt? Eine schweigende junge Frau, die man aus dem Berliner Landwehrkanal gefischt hatte? Hatte man eine lebende Erbin der Romanows? Oder war diese Anastasia einfach eine Betrügerin? Autor: Simon Demmelhuber

Stand: 17.02.2025

17.02.1920: Zarentochter Anastasia wird aus dem Berliner Landwehrkanal gefischt

17 Februar

Montag, 17. Februar 2025

Autor(in): Simon Demmelhuber

Sprecher(in): Berenike Beschle

Redaktion: Frank Halbach

Eine Frau springt am 17. Februar 1920 gegen 9 Uhr abends in den Berliner Landwehrkanal. Ein Streifenpolizist sieht den Sturz und zieht sie aus dem Wasser. Die Frau ist etwa 20 Jahre alt, stark unterernährt, hat keine Papiere, spricht kein Wort. In einer Nervenheilanstalt dämmert sie die folgenden anderthalb Jahre stumm vor sich hin, ohne ihren Namen preiszugeben.

Die Auferstandene

Erst im Frühjahr 1922 weicht ihre Zimmergenossin Clara Peuthert das Schweigen auf. Clara entdeckt auf einem Zeitungsfoto die verblüffende Ähnlichkeit ihrer Bettnachbarin mit einer der 1918 getöteten Zarentöchter. „Das bist doch du“, sagt Clara. Und da passiert etwas mit der Namenlosen. Eine Tür geht auf, ein Weg raunt „hier entlang!“, Schicksal keimt. „Ja!, ich bin Anastasia. Ich bin die jüngste Tochter des ermordeten Zaren“!
Als Clara wenig später entlassen wird, tränkt sie die russische Exilgemeinde Berlins mit dem Bericht einer wundersamen Auferstehung. Danach überlebt Anastasia als Einzige die Erschießung der Zarenfamilie. Alexander Tschaikowski, ein verliebter Rotarmist flieht mit der Schwerverletzten nach Bukarest, wo er kurz nach ihrer Heirat von russischen Geheimagenten erschossen wird. Anastasia entkommt, schlägt sich nach Berlin durch, hungert, friert, geht zuletzt verzweifelt ins Wasser.

Ist das wahr? Kann man das wirklich glauben? Falsche Romanows und überlebende Zarenkinder gibt es anfangs der Zwanziger Jahre zuhauf. Um der dubiosen Dame auf den Zahn zu fühlen, suchen Angehörige der verstreuten Zarenfamilie, Verwandte oder Verschwägerte aus deutschen Adelskreisen und ehemals Bedienstete die angebliche Großfürstin im Sanatorium auf. Für viele ist die Sache schnell klar: wieder eine Hochstaplerin mehr!
Andere wollen glauben, weil nur eine echte Anastasia ihre Hoffnung auf die Wiedergeburt des Zarentums oder den Zugriff auf die Auslandskonten der Romanows nährt.

Eine großfürstliche Bauerntochter

Ab 1926 drucken deutsche und internationale Blätter üppige Artikel und Fotostrecken über die gerettete Zarentochter. Als eine Leserin in Anastasia die seit Februar 1920 vermisste Mieterin ihrer Mutter zu erkennen glaubt, gehen Journalisten dem Hinweis nach. Sie decken Zug um Zug die wahre Geschichte der falschen Großfürstin auf. Sie handelt von der polnischen Bauerntochter Franziska Schanzkowska, die 1914 nach Berlin durchgeht, anfangs als Dienstmädchen, später in einer Munitionsfabrik arbeitet und genau dann spurlos verschwindet, als sich eine Unbekannte in den Landwehrkanal stürzt.

Demnach ist Franziska eine Betrügerin? Technisch gesehen, ja! 1992 bestätigen DNA-Analysen ihre Verwandtschaft mit der Familie Schanzkowska. Obendrein schließen Erbgutabgleiche mit den 1991 und 2007 geborgenen Überresten der Zarenfamilie jegliche Verbindung zu den Romanows aus. Genetisch ist die Sache klar: Schuldig! Gar keine Frage! Ach, wenn da nur nicht jene Verse wären, die Anette von Droste-Hülshoff ihrer Erzählung von der Judenbuche voranstellt: „Du Glücklicher, geboren und gehegt im lichten Raum, von frommer Hand gepflegt, leg hin die Waagschal, nimmer dir erlaubt! Lass ruhn den Stein - er trifft dein eignes Haupt!“


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