Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von Marsimoto, Dino Brandão, Stefanie Schrank u. a.
Die Neuheiten der Woche im kompakten Überblick. Mit Marsimoto, Dino Brandão, Brian Eno, Digitalism, Sorry3000, Frankie Flowerz, Stefanie Schrank, Melvins und Pearl Jam
Marsimoto – Keine Intelligenz
Nach fast zwanzig Jahren erscheint mit "Keine Intelligenz" das letzte Album von Marsimoto, dem außerirdischen Alter Ego von Marteria. Vermutlich eine ausgezeichnete Idee, den schwer bekifften Marsimoto in die Weiten des Alls zu schicken und zum Abschied lautstark zu winken. Denn Rapper Marteria ist mit den Jahren immer mehr zum stadionfüllenden peoplepleaser mutiert. Marsimoto, sein kleines subversives Neben-Ich mit der grünen Maske, passte da immer weniger dazu. Zumal Bekifftsein mittlerweile alles andere als subversiv ist, sondern im Prinzip absolut gesellschaftsfähig. Aber wenn schon Abschied, dann im ganz großen Stil … und nach einem tiefen Zug aus seiner Heliumflasche haut Marsimoto wieder seine gagaesken Wortspiele raus. Feiert zu Boom-Bap und tiefergelegten, dubsteppigen Beats die üblichen benebelnden Substanzen genauso wie seinen big fett green Edding oder auch seinen eigenen Abschied. Das mag thematisch nicht sehr politisch bzw. ambitioniert klingen, hat aber einen hohen Unterhaltungs-Faktor. Zumal wieder die üblichen Verdächtigen wie Kid Simius oder die Krauts das Ganze perfekt produziert haben. Und auch der kongeniale DJ Koze ist mit im Boot. Also, ab über Kleingartenkolonien ins grenzenlos grüne Kiffer-Nirvana … Bye Bye Marsi! (7,7 von 10 Punkten)
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Marsimoto – WASHINGTON P.C. (Full Song)
Dino Brandão – Self Inclusion
Der Schweizer Dino Brandão war Sänger und Gitarrist der Aargauer Gruppe Frank Powers. 2020 machte er sich selbständig und veröffentlichte zusammen mit Sophie Hunger und Faber ein Album. Sein Solo-Debüt "Self-Inclusion" hat der Schweizer jetzt ganz allein aufgenommen. Auch um seine Multiple-Sklerose-Diagnose zu verarbeiten, genauso wie seine psychischen Probleme. "Loser", der letzte Song auf dem Album spielt dann auch in einer psychiatrischen Einrichtung. Trotzdem klingen seine Songs ausgesprochen optimistisch, zumindest was die Musik angeht (von den Texten kann man das nicht immer behaupten, hier ist z.B. auch die Rede von kapitalistischer Ausbeutung und Kolonialismus). Dino Brandão selbst spricht von "Afro Psych", wenn es um Songs wie "Bouncy Castle" geht. "Coma" wiederum punktet in meinen Ohren mit mitreißenden Bläsern und erinnert mich an den in Berlin lebenden Zach Condon und seine Band Beirut. Und mit seiner latenten Schräglage und dem ausgefallenen Instrumentarium kommen mir auch Coco Rosie in den Sinn. Aber Dino Brandão klingt keinesfalls wie ein Abklatsch, seine tolle, sehr signifikante Stimme hat einen hohen Wiedererkennungswert. Und sein psychedelischer Eklektizismus macht Laune, ist funky und angenehm weird. Toller Typ. (8,0 von 10 Punkten)
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Coma
Brian Eno – Eno (The Official Soundtrack)
"Eno" ist ein Experiment, eine Doku, die sich immer wieder verändert. Eine KI setzt die Filmsequenzen immer wieder neu zusammen bzw. tauscht sie aus, wählt aus Hunderten von Stunden Videomaterial aus. Man sieht nie exakt denselben Film… Im Mittelpunkt steht Enos Musik, seine Kunst und seine Ideen, z.B. auch die Idee eines eigenen Radio-Senders. Mit "The Lighthouse" auf dem kostenpflichtigen Streaming-Dienst Sonos Radio HD wurde diese Idee 2021 Wirklichkeit. Brian Eno startete dort mit 300 unveröffentlichten Songs. Mit der Zeit kamen noch weitere Stücke aus seinem 7502 Musikstücke umfassenden Archiv dazu. Die Reihenfolge, in der die Stücke abgespielt werden, wird zufällig generiert, ähnlich wie die Szenen im Biopic.
Mit 17 Titeln aus 14 verschiedenen Alben plus drei unveröffentlichten Tracks wird auf dem Soundtrack versucht die Karriere von Brian Eno abzubilden. Von frühen Soloauftritten aus den Jahren 1974/75 über Kollabos mit Musikern wie David Byrne, John Cale und Cluster bis zu aktuellen Koops mit Jon Hopkins oder dem Super-DJ Fred again. Kein Best-Of-Album, schließlich ging es Brian Eno auch nie um Hits, aber ein super zusammengestellter Querschnitt durch den Output eines sehr sehr spannenden, sehr einflussreichen Künstlers. Toll auch der Auftritt von Brian Eno zusammen mit seinem Bruder Roger auf der Akropolis in Athen im Jahr 2021. Damals performten sie zusammen "By this river".
Die Doku über Brian Eno hat im Januar dieses Jahres das Sundance Film Festival eröffnet und ist auch digital zu haben. Ein typischer Brian Eno, wenn man so will. Nicht nur, dass man Eno als Protagonisten sehr nah kommt, sondern dass durch den Shuffle-Modus Vergangenheit und Gegenwart quasi eins werden. Ein sehr zeitgeistiges Konzept, das Eno da ausgetüftelt hat. (7,9 von 10 Punkten)
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Brian Eno - All I Remember
Digitalism – Idealism Forever
Kleine Zeitreise: Wir switchen ins Jahr 1988 zum "Second summer of love", dem Start der britischen Ravekultur. Es wurde getanzt bis in den frühen Morgen und weit darüber hinaus. Zum Sound von Bands wie den Happy Mondays oder den Stone Roses. Bands die Indie-Rock mit elektronischem Acid House verbunden und so den typischen Rave-Sound erfunden haben, die tanzenden Gitarren sozusagen. Knapp zwei Jahrzehnte später dann der "Third summer of love". Mittendrin: das Hamburger Duo Digitalism mit ihrem Debütalbum "Idealism". Und weil wir bekanntermaßen in einer musikalischen Endlosschleife leben, die sich immer schneller dreht, erscheint jetzt der Re-Release des Digitalism-Debüts inklusive einiger unveröffentlichter Tracks. Wer weiß, vielleicht läuten die Hamburger damit den "vierten Sommer der Liebe" ein …
"Idealism forever" ist auf alle Fälle ein Album, das auch 2024 noch relativ frisch klingt. Auch wenn das wunderbare Gebratze des Duos klar seine Vorbilder verrät. Dazu gehören Acts wie Daft Punk ("Magnets"), Motorbass ("Zdarlight") oder auch LCD Soundsystem ("I want I want"). Zwischen Rock und Electro tanzen Digitalism aufgeregt hin und her, klingen dabei rough und düster – die großen Melodien immer im Blick. Die bisher unveröffentlichten Tracks stammen alle aus den original Bunker-Sessions von 2007, sind allerdings eher nettes Beiwerk, als eine Offenbarung. (7,8 von 10 Punkten)
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Digitalism - Idealistic
Frankie Flowerz – Nightride
Frankie Flowerz, das ist der aus Malaysia stammende, seit 1998 in Berlin lebende Mohan Das, seines Zeichens Electric Monday-Resident-DJ im Berliner KitKat Club. Unter diversen Pseudonymen hat er auch schon auf Labels wie Crosstownrebels, Blaou und – der Labelname gefällt mir natürlich besonders gut – Funkhaus Music veröffentlicht. Im Laufe seiner 39-jährigen Karriere als Produzent und DJ hat Flowerz dann auch schon zusammen mit Theo Parish, Kenny Dixon Jr und Laurent Garnier aufgelegt. Sein Album "Nightride" mixt Soul, Funk, Disco und House, klingt sehr smooth, aber über die 21 Tracks hinweg auch etwas redundant. Etwas weniger After Hour-Schwof und dafür mehr Abwechslung hätte da vielleicht ganz gutgetan, musikalisch, aber auch thematisch. (6 von 10 Punkten)
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Live the Moment
Sorry3000 – Der Spaß ist zu Ende
Von Hamburg nach Halle an der Saale bzw. Leipzig. Von dort kommen Sorry3000, die mit "Grüße von der Überholspur" ihr zweites Album veröffentlichen. Ihr Indiepop legt mit einer unglaublich schonungslosen Präzision seine Finger in die Wunden kleiner Spießer-Seelen. Und hat mich damit ziemlich schnell gekriegt. Es geht ums Pseudo-Sparen, Sonntags-Burnout, Selbstoptimierungszwänge und kleine einsame Zitronenbäume am Existenzlimit. Stimmen wie Gitarren hängen oft etwas erschöpft, etwas orientierungslos in der Luft. Und klingen dabei doch sagenhaft catchy. "Grüße von der Überholspur", das zweite Album von Sorry3000, ist super sympathischer Loserpop, der nicht nur digital und auf Vinyl, sondern auch auf Kassette zu haben ist. (8,1 von 10 Punkten)
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Sorry3000 – Es ist alles nicht so schlimm
Stefanie Schrank – Schlachtrufe BRD
Während Sorry3000 slackerhaft und doch beschwingt ihr Umfeld sezieren, singt Stefanie Schrank lieber von sich selbst, ihrer musikalischen Sozialisation mittels der Deutschpunk-Samplerreihe "Schlachtrufe BRD" … einer Punk-Sozialisation, die nicht den Sound von Stefanie Schrank geprägt hat, aber ihre Haltung. Den Mut zu machen, auch wenn’s nicht perfekt klingt.
Stefanie Schrank ist bildende Künstlerin und Bassistin der Kölner Band Locas in Love. Ihr letztes Album mit dem tollen Titel "Unter der Haut eine überhitzte Fabrik" ist jetzt schon wieder fünf Jahre her. Dazwischen liegt eine unerfreuliche Pandemie, die nicht nur Stefanie Schrank aus dem Konzept gebracht hat. Aber jetzt ist Stefanie wieder da. Mit herrlich unaufgeregten, reduzierten Synthie-Songs, die bei jedem Hören noch etwas größer, noch etwas erhabener daherkommen. Selbst krautrockende Instrumentals wie der Track "Amöbe" grooven elegant dahin und scheinen dabei zu wachsen. Und Air Supplys "All out of love” klingt bei Stefanie Schrank nicht mehr unangenehm cheesy, sondern nach coolem Pop-Kino. Davon hoffentlich bald mehr… (8,2 von 10 Punkten)
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Stefanie Schrank - Schlachtrufe BRD (Official Video)
Melvins – Tarantula Heart
Seltsam. Das Pearl Jam’sche Rockkonzept klingt in meinen Ohren anachronistisch, der Avantgarde-Rock der Melvins dagegen weit weniger. Obwohl die Melvins mittlerweile auch schon über 40 Jahre existieren. Ungeachtet aller musikalischen Trends machen sie seit 1983 stoisch ihr Ding, ihr Output wächst Jahr für Jahr. Inklusive der ein oder anderen Überraschung. Z.B. veröffentlichen sie ab und an mal ein Acoustic-Album, dann gibt’s Fuck-It-All-Folk statt Melvins-Heavyness.
"Tarantula Heart" ist jetzt allerdings wieder genau das, Melvins-Heaviness der Extraklasse. Dunkler, psychedelischer Melvins-Metal. Mit einigen Gästen wie z.B. Roy Mayorga, dem Drummer von Ministry, der den Sound noch imposanter gemacht hat. (8 von 10 Punkten)
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Melvins "Working The Ditch" (pre-order now)
Pearl Jam – Dark Matter
Zeitreise, die zweite: Anfang der 1990er Jahre grassierte in und um Seattle das durch den Nirvana-Erfolg ausgelöste Grunge-Fieber. Die Major-Musikindustrie suchte händeringend nach Nachschub. Gesignt wurde alles in Flanellhemd und Schlabbershort, blutjunge Bands wie Pearl Jam, die sich gerade erst gegründet hatten. Das Spin-Magazin schrieb 1992 dazu: "Seattle ist momentan für die Rockwelt, was Bethlehem für das Christentum ist." Von dem Seattle-Hype ist nichts geblieben, außer besagte Pearl Jam, die jetzt mit "Dark matter" ihr zwölftes Album veröffentlichen.
Die Grunge-Veteranen haben ihr neuestes Werk nach einem astrophysikalischen Begriff benannt, nach der "dunklen Materie", die ja angeblich alles zusammenhält, deren genaue Beschaffenheit aber noch eine der großen ungelösten Fragen der modernen Astrophysik ist. Was wiederum Pearl Jam seit 35 Jahren zusammenhält.
"Wenn man zusammen in einem Boot sitzt, muss man manchmal das Gewicht richtig verteilen, damit es nicht sinkt. Es kommt wirklich auf die Gewichtsverteilung an. Da sind wir uns alle einig. Wenn einer dafür seinen Platz wechseln muss, sich verändern muss, macht er das auch. Das gilt auch für die Musik. Früher war das nicht so einfach. Heute sagen wir, klar, wird gemacht."
Eddie Vedder, Sänger
Etliche Songs auf "Dark Matter" klingen erstaunlich frisch und ambitioniert. Das mag an der optimalen Gewichtsverteilung liegen, aber auch daran, dass Pearl Jam von ihrem Produzenten Andrew Watt (der auch schon Ozzy Osbourne und die Rolling Stones produziert hat) im Studio ordentlich angetrieben wurden. Angeblich haben sie das Album in nur drei Wochen gemeinsam geschrieben und eingespielt. Die Energie spürt man. Dazwischen liegen aber auch Songs, die mit einer Tom Petty-haften Gemütlichkeit daherkommen ("Wreckage") oder kurz an Pink Floyd erinnern ("Upper hand"). Gemeinsam ist ihnen allen aber die Signature-Stimme von Eddie Vedder und das perfekte Zusammenspiel einer Band, die sich seit Jahrzehnten kennt. Pearl Jam-Fans wird "Dark matter" vermutlich sehr glücklich machen – auch wenn ihr Rocksound im Jahr 2024 etwas anachronistisch wirkt. (7,8 von 10 Punkten)
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Pearl Jam - Wreckage (Official Visualizer)