Zum 65. Geburtstag Neil Young
Am 12. November 2010 wurde Neil Young 65 Jahre alt. Schon 1976, mit gerade mal 30 nimmt er ein Lied auf mit dem Titel "Long may you run". "Lang mögest du laufen", möchten wir Neil Young heute zurufen.
Damals gelten diese Wünsche einem gewissen Mort - das ist ein schwarzes Monstrum von einem Leichenwagen. Das dient Neil Young schon in den 60ern als Bandbus. Wo normalerweise der Sarg 'reingeschoben wird, da verstauen die Musiker ihre Gitarren und Verstärker. Viele, viele Musiker hat der gute alte Mort durch Amerika kutschiert, und wenn er nicht gestorben ist, dann gilt weiterhin: Er läuft und läuft und läuft er läuft und läuft und läuft...
"Long may you run" dürfte der einzige Pophit sein, der einem Leichenwagen gewidmet ist. Neil Young kann tote Gegenstände zum Leben erwecken, besonders gut kann er das mit Gitarren. Denen gönnt er auch gerne mal ihr Eigenleben. Wenn er zum Beispiel mit Crazy Horse auf der Bühne steht, seiner altgedienten Begleitband. Dann lassen sie ihren Instrumenten freien Lauf, bis der Krach sich überschlägt. Neil Young also kann tote Gegenstände zum Leben erwecken, deswegen gibt er toten Gegenständen gerne Namen: Das schwarze Monstrum nennt er Mort, seine Lieblingsgitarre tauft er: Old Black. Sie ist - klar - alt und schwarz.
Geschichten wie diese erfährt man in "Long may you run", dazu gibt es jede Menge seltene Fotos. "Long may you run" ist nämlich der Titel einer Bildergeschichte, die pünktlich zum 65. Geburtstag von Neil Young erscheint. Untertitel: The Illustrated History. Daniel Durchholz und Gary Graff erzählen noch einmal die Geschichte von Neil Young. Oder besser: die Geschichten von Neil Young. Der Mann hat nämlich viele Facetten. Eine dieser Facetten: Neil Young, der Mann, auf den man sich nicht verlassen kann.
Transformer Man
Oder, mit einem seiner Songs: Ein "Transformer Man", einer, der sich selbst treu bleibt, in dem er sich verändert, transformiert. Mit dem "Transformer Man" und dem Album "Trans" schockiert Neil Young 1981 seine Fans wie seine Plattenfirma. Plötzlich greift der alte Folkrocker zum Computer und schickt seine unverkennbare Stimme durch einen Vocoder - der sie bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Einmal mehr hinterlässt Neil Young ratlose Fans. Einmal mehr nimmt er eine persönliche Erfahrung zum Anlass für einen radikalen künstlerischen Kurswechsel. 1979 kommt Neil Youngs zweiter Sohn Ben zur Welt. Wie sein älterer Bruder leidet Ben an zerebraler Kinderlähmung, allerdings in besonders schwerer Form. Mit seiner Frau Pegi entschließt sich Young für eine komplizierte Computertherapie. Mit Hilfe von Robotern soll das schwerbehinderte Kind lernen, auf Knöpfe zu drücken. Mit dem Album "Trans" verarbeitet Neil Young diese Erfahrungen:
"Trans ist mein Versuch, mit einer kommunikationsunfähigen Person Kontakt aufzunehmen. 'Transformer Man' ist ein Lied für mein Kind."
Neil Young
Für viele seiner Fans ist es eine Zumutung. Die wollen lieber was fürs Herz. Einen herzerwärmenden Song wie "Heart of Gold". Mit diesem Rührstück wird Neil Young 1972 zum Superstar, das dazugehörige Album "Harvest" katapultiert ihn an die Spitze der Charts und beschert ihm einen Geldsegen. Aber, Fluch und Segen sind manchmal zwei Seiten einer Medaille. "Alle haben das 'Harvest'-Album geliebt. Klar hätte ich immer neue Fortsetzungen von 'Harvest' aufnehmen können, aber dafür hätte ich mich gehasst", sagt Neil Young in "Long may you run". Er will neue Sachen ausprobieren, seine Plattenfirma will Hits nach dem Schema "Heart of Gold".
Viel zu jung für den Ruhestand
Kompromisse sind nicht die Sache von Neil Young, und finanziell kann er sich das leisten. Jetzt wird er 65, viel zu jung für den Ruhestand. Wie kein zweiter Musiker seiner Generation hält der kanadische Dickkopf an den Träumen seiner Hippiejugend fest. Für ihn gilt auch im 21.Jahrhundert noch die Parole: Make Love not War, das vertritt er allerdings sehr kämpferisch. Er streitet für Gerechtigkeit auf Erden und für eine saubere Umwelt. Und auch im Jahr 2010 redet er immer noch vom Krieg.
"Dein Daddy wird nicht mehr nach Hause kommen", singt Neil Young in "Love and War", einem Song von seinem Album mit dem programmatischen Titel "Le Noise" produziert von Daniel Lanois, hübsche Verbeugung: Le Noise / Lanois. Mit "Love and War" ist er einer der ganz wenigen populären Musiker, die das unpopuläre Wort Krieg überhaupt noch in den Mund nehmen. Anders als der Vietnamkrieg finden die aktuellen amerikanischen Kriege in der Popmusik kaum ein Echo. Nur der alte Young hört nicht auf, an diese Kriege zu erinnern. Auch auf seinem neuen Album. "Love and War" heißt der Song, ein Titel fast wie ein Roman von Tolstoi. Liebe und Krieg. Mit der Parole Liebe statt Krieg ist Young groß geworden, Make Love not War ist der Slogan der Proteste gegen den Krieg der USA in Vietnam.
Aber Neil Young muss schon bald erkennen, dass man der Kriegsindustrie mit ein bisschen Liebe nicht beikommen kann. Am 4.Mai 1970 werden bei einer Anti-Kriegs-Demonstration an der Kent State University in Ohio vier Studenten von der Nationalgarde erschossen. David Crosby zeigt Neil Young Fotos von dem Blutbad, der greift sich seine Gitarre - und 20 Minuten später ist der Song fertig. So wird die Legende erzählt im Neil Young-Geschichtsbuch "Long may you run".
Der Mann, auf den man sich nicht verlassen kann
"Zinnsoldaten und Nixon sind unterwegs, vier Tote in Ohio", singt Neil Young. Schneller hat selten eine Band auf ein aktuelles Ereignis reagiert als Crosby, Stills, Nash & Young im Mai 1970 auf das Blutbad an der Kent State University in Ohio. Keine drei Wochen später ist der der Song "Ohio" auf dem Markt und wird auf der Stelle zur Antikriegshymne der Protestbewegung. Und Neil Young wird zu einer Galionsfigur dieser Bewegung. Dabei eignet er sich so gar nicht als politischer Anführer. Neil Young, der Mann, auf den man sich nicht verlassen kann. Derselbe Neil Young, der in den 70ern gegen den Vietnamkrieg und gegen Atomkraftwerke demonstriert, unterstützt 1984 den Wahlkampf von Ronald Reagan. "Ein Jahr später", so schreibt die Süddeutsche Zeitung, "initiierte er mit dem Countrysänger Willie Nelson die Farm-Aid-Konzerte für die amerikanische Bauernbewegung, die ihre Wut auf Banken und Landwirtschaftskonzerne seit jeher von rechts formulierte." Neil Young, das sieht nicht nur die SZ so, ist also alles andere als ein Linker. Den nächsten Beleg seiner politischen Unberechenbarkeit liefert er nach dem 11. September 2001.
Der Song "Let's roll" aus seinem Album "Are you passionate?" ist sicher kein Höhepunkt seines musikalischen Schaffens. Aber typisch für Youngs ganz eigene Art, auf seine Umwelt zu reagieren. "Let's roll", mit diesem Schlachtruf haben sich die Passagiere des Fluges 93 am 11.September 2001 in ihre letzte Schlacht gestürzt. Sie haben die Entführer der Maschine angegriffen und das Flugzeug zum Absturz gebracht. Und damit sehr wahrscheinlich verhindert, dass das Flugzeug ins Weiße Haus gerast ist. "Let's roll" - auch dank Neil Young wird dieser Ausruf zum patriotischen Slogan der angegriffenen Nation. George W. Bush macht ihn zum Motto für seinen so genannten "Krieg gegen den Terror". "Mit 'Let's roll' macht sich der Komponist der Antikriegshymne 'Ohio' zum Sprachrohr all jener seiner Altersgenossen, die ihre pazifistischen Ideale über die Jahre für eine stramme Wehrhaftigkeit aufgaben", so die SZ. Ihr Fazit: Neil Young ist jetzt Sprecher der Generation Patriot.
Aber, Neil Young wäre nicht der Mann, auf den man sich nicht verlassen kann, wenn er es dabei belassen hätte. Vier Jahre später wird aus dem wehrhaften Patrioten wieder ein Kritiker des Krieges. Und wieder reagiert Neil Young spontan und emotional auf eine Zeitungsmeldung: "Ich sah das Foto von einem Militärflugzeug, das hatten sie zu einem fliegenden Krankenhaus umgebaut. Im Text hieß es dann, dass wir große medizinische Fortschritte machen durch den Irak-Krieg. Da ist mir die Hutschnur geplatzt und ich habe auf der Stelle den Song 'Families' geschrieben für einen Soldaten, der nicht mehr nach Hause kommt. Dann habe ich in den Armen meiner Frau geweint. Das war für mich der Wendepunkt."
Der Wendepunkt
Aus diesem Schlüsselerlebnis heraus entsteht ein ganzes Album über das Leben mit dem Krieg: "Living with war". Das Album gipfelt in der Song-gewordenen Forderung, den Kriegspräsidenten George W. Bush zu entmachten: "Let's impeach the President for lying". Lass uns den Präsidenten absetzen für seine Lügen. Vielleicht könnte ja mal eine Frau Präsident werden, schlägt Young vor. Oder ein schwarzer Mann? Neil Young ist auch einer der ersten Popstars, die den Namen Barack Obama in den Mund nehmen.
"Living With War" ist tatsächlich jenes Protestalbum, an dem sich in den letzten Jahren viele versucht haben und das dann trotz allen Geredes von der Rückkehr des Protestsongs doch nie erschien." Mit diesen Worten feiert der Kritiker Tobias Rapp 2006 das Antikriegs-Album "Living with war". Und er liefert noch eine präzise Analyse von Neil Youngs politischem Zickzack-Kurs: "Young hätte nach 'Ohio' das werden können, was man so totalisierend wie falsch die 'Stimme einer Generation' nennt. Dass er einen anderen Weg gewählt hat und in mühevoller und schmerzhafter Karrierezerstörungsarbeit immer alle Positionen umgeworfen hat, die ihn in die Gefahr brachten, für irgendjemand anders zu sprechen als für sich selbst (und dabei sind viele Furcht erregend schlechte Platten herausgekommen), gibt ihm heute die Autorität und die Glaubwürdigkeit, genau dies wieder zu tun: eine Haltung zu finden, die nur seine ist, genau deshalb aber universell für alle funktioniert."
Songs für alle
Universell, für alle - so funktionieren viele seiner Lieder. Auch und gerade für die Nachgeborenen. Viele Musiker, die zehn, zwanzig, dreißig, ja vierzig Jahre jünger sind, bewundern den alten Young. Sonic Youth zum Beispiel: "Er ist als Musiker, als Gitarrist und als Songschreiber eine wichtige Inspiration", sagt Kim Gordon von Sonic Youth in "Long may you run", dem neuen Young-Geschichtsbuch. Und weiter: "Und er hat diese Haltung: eine sehr perverse, komplizierte Person. Er ist der Einzige aus seiner Generation, den unsere Szene respektiert für seine Integrität."
Zu dieser Integrität gehört auch, dass Neil Young aufmerksam verfolgt, was die Nachgeborenen da treiben. Er ist einer der wenigen Alten, die sich noch für die Musik der Jüngeren interessieren. So ist er Ende der Siebziger einer der ersten amerikanischen Hippies, die das kreative Potential von Punk erkennen. Und Young ist einer der ganz wenigen Altrocker, die in den Neunzigern den Schulterschluss zur neuen Rockgeneration suchen, zur Grunge-Bewegung. Mit Pearl Jam nimmt Young sogar ein gemeinsames Album auf. Und Kurt Cobain zitiert Neil Young in seinem Abschiedsbrief, bevor er sich den Kopf wegschießt: Besser schnell verbrennen als langsam verblassen.
"It's better to burn out, than to fade away”, singt Neil Young in "Hey Hey My My, Rock'n' Roll will never die." Der Song enthält noch einige Zeilen, die zu geflügelten Worten werden sollten: "The King is gone but not forgotten, is this the story of a Johnny Rotten?" Elvis, der König ist gegangen, ist das etwa die Geschichte von Johnny Rotten? Fragt Young 1979, die Leiche von Elvis ist noch lauwarm und Punk ist für die meisten Althippies der Generation Young eine lächerliche Mode, über die schon morgen keiner mehr reden wird. Auch da sieht Neil Young klarer als andere, wie wir heute wissen. Heute wird er 65 und wir rufen ihm zu, was er 1976 dem alten Leichenwagen namens Mort gewünscht hat: "Long may you run, Mr.Young!"
Und vielleicht hat ja Arne Wilander recht, der schreibt in seinem Glückwunsch in der Zeitschrift Rolling Stone: "Es spricht viel dafür, dass er der erste Rockmusiker sein wird, der niemals stirbt."