Die schwarze Spinne Das Thema
Drei deutschsprachige Schweizer Dichter
Aus der deutschsprachigen Dichtung des 19. Jahrhunderts sind drei Autoren nicht wegzudenken, die in unserem Nachbarland Schweiz beheimatet sind: Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und Jeremias Gotthelf. Während in Deutschland die Zeit der Klassik bereits vorbei war und die großartige Romantik sich angesichts beginnender Industrialisierung und gesellschaftlicher sowie politischer Umwälzungen nach und nach in epigonenhaften Werken verlor, entstand in der Schweiz eine selbstbewusste, bodenständige und realistische Literatur von bleibendem Wert. In vielen Erzählungen, Novellen und Romanen gaben die drei genannten Autoren schließlich auch dem poetischen Realismus Deutschlands wieder neue Impulse.
Jeremias Gotthelf alias Albert Bitzius
Albert Bitzius, der aus einer alteingesessenen Berner Pfarrersfamilie stammte, war besonders dem Dorf- und Landleben verbunden. Er kannte die Sorgen und Nöte der hart arbeitenden Landbevölkerung und konnte deshalb deren Denken und Handeln unverfälscht skizzieren. Als Pfarrer sieht er die großen Umwälzungen, die in der Welt stattfinden, und ahnt deren Folgen für die ihm anvertrauten, gläubigen Gemeindemitglieder. Als der verantwortungsbewusste und engagierte Pfarrvikar nach mehrere Fehlversuchen erkannte, dass er auf politischer Ebene nicht gegen den aufkeimenden Materialismus ankämpfen konnte, begann er mit fast vierzig Jahren zu schreiben. So entstanden wuchtige, unvergessliche Gestalten, die in den zunehmenden Wirren der modernen Gesellschaft nach einer umfassenden, christlich geprägten Ordnung suchten und darin ihr Auskommen fanden. Bitzius nimmt schließlich den Namen der Hauptfigur Jeremias Gotthelf aus seinem ersten Roman „Der Bauernspiegel“ (1836) als Künstlernamen an.
Das dichterische Werk Gotthelfs
Als aus Bitzius erst einmal Gotthelf geworden war, entfaltete dieser in den verbleibenden Lebensjahren bis 1854 eine ungeheure Flut von Erzählungen und Romanen, die schließlich in der Gesamtausgabe 24 Bände füllten. Darin schildert er mit kräftigen Farben die Menschen aus seiner ländlichen Erfahrungswelt. Nicht zuletzt dadurch gewann er schnell breite Leserschichten und wurde zu einem der erfolgreichsten Autoren seiner Zeit. Aber auch sein pädagogisches Bestreben, dass in Form einer christlich erlebten Weltordnung sein Werk durchzieht, mag zum Erfolg Gotthelfs beitragen haben. In den unübersichtlichen Zeiten politisch-gesellschaftlichen Wandels konnten allein metaphysisch begründete ethische Maßstäbe den fragenden Menschen Halt geben. Aus dem umfangreichen Œvre Gotthelfs sind einige herausragende Titel zu nennen: In dem zweigeteilten Roman "Wie Uli der Knecht glücklich wurde" und "Uli der Pächter" wird der soziale Aufstieg eines kleinen Mannes dargestellt. "Geld und Geis"t sowie "Die Käserei in der Vehfreude" können mit Fug und Recht als Volksepen bezeichnet werden. Schließlich stellt Gotthelf in "Zeitgeist und Berner Geis"t zwei gegensätzliche Bauerngestalten in ihren Schicksalen dar. Trotz ihres wesentlich geringeren Umfangs sticht jedoch die Novelle "Die schwarze Spinne" wegen ihres kunstvollen Aufbaus und ihres vielschichtigen Bedeutungsgehalts hervor.
Die schwarze Spinne
Die Erzählung "Die schwarze Spinne" verbindet drei uralte Sagen miteinander und mit der Gegenwart der Zeitgenossen Gotthelfs. Weit verbreitet sind Sagen vom geprellten Teufel, von der gebannten Pest und von der tödlichen Spinne. Neu bei Gotthelf ist, dass er diese Geschichten in einen gemeinsamen sinngebenden Kontext stellt und für seine Leser unmittelbar zu einer Mahnung und Lehre werden lässt. Auch wenn Gotthelf gelegentlich vorgeworfen wird, er halte den moralischen Zeigefinger zu oft hoch, so bleibt diese Erzählung doch gerade dadurch unvergesslich, dass sie tief ins menschliche Herz trifft. Der fatale Zusammenhang zwischen auswegloser Verzweiflung und der Bereitschaft, nach einem teuflisch gefährlichen Strohhalm zu greifen, ist unmittelbar einsichtig. Die Verführung durch den Teufel und die Rettung durch gottgefällige Menschen erbaut nicht nur religiös empfindende Leser. Der Kontrast zwischen dem sorglosen, üppigen Leben in der Rahmenerzählung und der erbärmlichen Not in der Binnenhandlung zielt auf eine demütige Haltung der Dankbarkeit für das gegenwärtige Glück des Publikums.
Die politische Dimension
Eine eindeutige Zuordnung des Inhalts der Novelle zu zeitgenössischen Gegebenheiten gelingt nicht. Aber nachdem der Geistliche Bitzius ab 1832 keine politischen Ämter mehr bekleiden durfte und auf diese Weise keinen Einfluss mehr auf die seiner Ansicht nach verderblichen Kräfte des Fortschritts nehmen konnte, verteidigte er in seiner Literatur ein konservativ-christliches Weltbild. Wer fest zum Glauben an Gott steht und an christlichen Werten und Moralvorstellungen festhält, der bleibt von der teuflischen Macht der Spinne verschont. Wie eine Pest verbreiteten sich im 19. Jahrhundert freigeistige Ansichten, welche die jahrhundertelang festgefügte Gesellschaft erschütterten. Die tief eingeschnittenen Alpentäler der Schweiz konnten nicht länger von der gesamteuropäischen Entwicklung unberührt bleiben. Aufklärung, Industrialisierung, Politisierung der Massen, Auflehnung gegen überaltete Herrschaftsstrukturen brachten beängstigende Bewegung in die Schweizer Gesellschaft. Diesen drohenden Seesturm suchte Gotthelf durch Besinnung auf christliche Tugenden zu stillen.
Bedeutung in der heutigen Zeit
Die Macht des Aberglaubens und todbringender Seuchen ist in unserer Welt heute weitgehend besiegt. Grundsätzlich aktuell bleibt jedoch die Gefahr, dass sich der Mensch leichtfertig auf moralisch fragwürdige Handlungsweisen einlässt. Die Verlockungen der Gentechnik oder der Atomkraft mögen andeuten, dass die Menschheit möglicherweise nicht in der Lage ist, die Geister, die sie ruft, auch wieder loszuwerden. Viele andere, verantwortungslose Handlungsweisen treiben möglicherweise unseren gesamten Planeten in die Klimakatastrophe, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Um im Bild der Spinne zu bleiben, in deren Tod und Verderben bringendem Netz sich die Einwohner des Emmentals einst verfingen, könnte man auch das weitaus größere, weltumspannende, elektronische Netz aus Datenleitungen als Gefahr begreifen. Im Internet tummeln sich nicht nur Ungeziefer in Form von Viren und Würmern, sondern auch Seelenfänger politisch-extremistischer, religiös-fanatischer oder kriminell-jugendgefährdender Art. Wer sich hier arglos auf einen scheinbar harmlosen „Kuss“ einlässt, kann per Mausklick empfindliche materielle Schäden bis hin zu tiefen ideellen Schäden an der Würde seiner Person und derer seiner Mitmenschen heraufbeschwören.