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Eine "unerhörte Begebenheit"

Von: Stephanie Ahrens / Sendung: Thomas Morawetz

Stand: 31.10.2013 | Archiv

Die Novelle: Eine "unerhörte Begebenheit"

Deutsch und LiteraturRS, Gy

Eine Novelle sei eine sich ereignete unerhörte Begebenheit nach Goethe, straff komponiert und dicht. Als Schwester des Dramas wird sie auch bezeichnet, als Geschichte, die einen "Falken" braucht - was also ist eine Novelle?

Als Goethe 1828 einer kurzen Erzählung den Namen "Novelle" gibt, knüpft er an eine literarische Tradition an, die von Giovanni Boccaccio mit seinem Decameron, einem Zyklus von Geschichten, im 14. Jh. begründet wird. Boccaccio, der neben dem Spanier Cervantes (Exemplarische Novellen, 1613) als Vater der Novelle gilt, bettet seine Erzählungen in eine Rahmenhandlung ein: Edle Florentiner flüchten vor der Pest in ein Landhaus, wo sie einander Geschichten vortragen, um sich zu unterhalten und die Zeit zu  vertreiben. Es sind anregende, überraschende und kurze Texte, die die eingeschlossene adlige Gesellschaft amüsieren und von der drohenden Pestgefahr ablenken. Das italienische novella für 'kleine Neuigkeit' spiegelt die Vorstellung von der kurzen, hörens- und erzählenswerten Angelegenheit wider, die sich damit nicht für den langen epischen Text, den Roman eignet. Die Kürze bedient gleichzeitig eine im 14. Jh. neue Leserschaft: die der aufsteigenden Mittelschicht, wohlhabende, geschäftige Händler und Kaufleute. Eine Novelle lässt sich sozusagen "zwischendrin" mal lesen. Spannung, Atmosphäre und Charaktere, alles lebt von der dichten Darstellung und kann in einem einzigen Zug genossen werden. Damit unterscheidet sich diese Textsorte vom Roman, der weit ausholt, häufig viele Charaktere vorstellt, mehrere Handlungsstränge verknüpft, einen großen zeitlichen Rahmen umspannt und für den der Leser einen langen Atem braucht.

Goethes "Novelle" - Das Novellen begeisterte 19. Jahrhundert

In Goethes 'Novelle' begegnet der Leser einer adligen Jagdgesellschaft, die an einem Herbstmorgen zu Pferd aufbricht. Zurück bleiben die junge Frau des Fürsten, sein Freund Honorio und ein Onkel, die gemeinsam zum verlassenen, aber idyllischen Stammsitz der Familie reiten wollen. Auf diesem Weg müssen sie durch das im Tal liegende Städtchen, in dem buntes Jahrmarkttreiben die Besucher anzieht. Eine besondere Attraktion ist ein Wagen mit wilden Tieren, der einen Tiger und einen Löwen zur Schau stellt. Der jungen Fürstin wird sogleich ein wenig bang, aber sie reitet an dem Wagen vorbei und gemeinsam erreicht die kleine Gruppe gegen Mittag eine bewaldete Anhöhe, von der aus sie auf das Städtchen und den Jahrmarkt sowie die darüber liegende Residenz zurückblicken können. Die Idylle wird jäh unterbrochen, als man von den Jahrmarktswagen Rauch aufsteigen sieht. Der Onkel beschließt zu Hilfe reiten; Fürstin und Honorio sollen langsamer folgen. Die Ereignisse spitzen sich dramatisch zu, als den beiden auf dem Weg ein entflohener Tiger begegnet, den Honorio mit seinem Schuss knapp verfehlt, sodass er verletzt und aufgeschreckt der Fürstin nachsetzt. Diese wird in letzter Sekunde durch Honorio gerettet, der Tiger getötet. In dieser Situation kommen die Besitzer des Tigers in seltsamer bunter Kleidung herbei. Sie berichten, dass der Tiger und ein Löwe durch den Brand auf dem Jahrmarkt aus ihrem Wagen entkommen sind. Von den zahmen Tieren gehe keine Gefahr aus. Der noch flüchtige Löwe, der auf der Burgruine ruht, möge nicht erschossen werden, man solle das Einfangen dem jungen Sohn überlassen, der das Raubtier mit seiner Flöte bezähmen und in seinen Wagen locken könne. Dies gelingt ihm auch und am Ende steht die fürstliche Gesellschaft beschämt da: Der wilde Löwe wird von der Kunst des Jungen angelockt wieder eingefangen, Gewalt war hier unnötig.

Mit der spannenden und dramatischen Handlung wird der Leser nicht nur unterhalten. Die Darbietung des unerhörten Ereignisses läuft straff komponiert auf das Ende zu, an dem die sanfte Kunst des Jungen die wilde Natur im Löwen besänftigt und die Ordnung wiederherstellt. Im Gespräch mit Eckermann sagt Goethe: "Zu zeigen, wie das Unbändige, Unüberwindliche oft besser durch Liebe und Frömmigkeit als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe dieser Novelle, und dieses schöne Ziel, welches sich im Kinde und Löwen darstellt, reizte mich zur Ausführung."[1] Die Konzentration der Handlung in einem zentralen Symbol, wie hier dem Löwen, stellt neben dem dramatischen Spannungsaufbau der ungewöhnlichen Geschichte ein weiteres Charakteristikum der Novelle dar. Ein sol­ches Dingsymbol oder auch Leitmotiv ist in vielen Novellen zu finden. Es ist das, was Paul Heyse (1830-1914), selber ein bekannter Novellist, in seiner Falkentheorie zu beschreiben versucht. Der Falke gehört in eine Novelle aus Boccaccios Dekameron (neunte Novelle des fünften Tages), in der ein verarmter Adliger als Zeichen seiner Liebe seinen größten Schatz, einen edlen und wertvollen Jagd­falken, der geliebten Frau zum Mahl vorsetzt. Zum Dank erhört ihn die Dame. Im Symbol des Falken verdichtet sich die absolute Liebe des selbstlos Handelnden. Heyse ist der Überzeugung, dass es nicht schaden könnte, "wenn der Erzähler auch bei dem innerlichsten oder reichsten Stoff sich zuerst fragen wollte, wo 'der Falke' sei, das Spezifische, das diese Geschichte von allen anderen unterscheidet."[2]

Höhepunkt der deutschen Novellenliteratur im Realismus und Naturalismus

Nach Goethe entdecken im Laufe des 19. Jahrhundert immer mehr Schriftsteller diese kurze Prosaform für sich. Wie bereits im 14. Jahrhundert in Italien reagiert auch in Deutsch­land der Literaturbetrieb auf eine erweiterte Leserschaft. Das gesellschaftlich wie politisch erstarkte Bürgertum liest: Lesezirkel, Zeitschriften, Zeitungen erfahren eine ungeheure Nachfrage. In der Romantik wenden sich Autoren wie Clemens Brentano, Ludwig Tieck und E.T.A. Hoffmann der Novelle zu. Bei E.T.A. Hoffmann lässt sich in einer Sammlung von Geschichten Die Serapionsbrüder (1819-1821) das Konzept einer Rahmenhandlung, in der die einzelnen Geschichten eingebettet sind, wiederfinden. Im Übergang zwischen Romantik und Realismus steht Heinrich Kleist, dessen Novellen 'Das Erdbeben in Chili' (1807/1810) oder 'Die Marquise von O.' (1808) beispielhaft sind. Die dramatische Handlung um die tragisch Liebenden Josephe und Jeronimo ereignet sich in der Ausnahmesituation eines Erdbebens, dessen reales Vorbild für Kleist das Erdbeben in Lissabon 1755 ist. Das Geschehen beginnt in der Katastrophe und führt über mehrere Schleifen, in denen sich alles noch zum Guten zu wenden scheint, in die Katastrophe des gewaltsamen Todes der beiden. In der 'Marquise von O.' gibt der Erzähler durch die Fiktion einer Zeitungsannonce zu Beginn der Novelle der Geschichte den Anstrich von Wahrheit und Authentizität. In beiden Texten strebt das plötzliche, krisenhafte Ereignis auf einen Höhe- oder Wendepunkt zu. Wieder wird die Nähe zum Aufbau des geschlossenen Dramas, zu dessen stringenter Komposition und dichten Ausdruckswillen deutlich. Hinzu kommt die Konzentration auf die intensive Reaktion der Figuren auf den besonderen Augenblick. "(Die Novelle) gibt nicht das umfassende Bild der Weltzustände, aber einen Ausschnitt daraus, der mit intensiver, momentaner Stärke auf das größere Ganze als Perspektive hinweist, nicht die vollständige Entwicklung einer Persönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menschenleben, das eine Spannung, eine Krise hat und uns durch eine Gemüts- und Schicksalswendung mit scharfem Akzente zeigt, was Menschenleben überhaupt ist." (Friedrich Theodor Vischer)[3]

Auch wenn mit Goethes Novellendefinition und denen romantischer und realistischer Autoren einige immer wieder genannte Merkmale umrissen sind, wird deutlich, dass sich keine einheitliche Definition dieser Textsorte leisten lässt. Anschauliches Beispiel hierfür ist der 'Bahnwärter Thiel' (1887) von Gerhart Hauptmann, der im Untertitel 'Novellistische Studie' heißt.

In diesem Begriff treffen die vorangegangenen Überlegungen zur Novelle zusammen mit dem naturalistischen Ansatz, soziale, gesellschaftliche Wirklichkeit möglichst exakt, ohne poetische Überformung abzubilden. Wie in einer wissenschaftlichen Sozialstudie soll das Leben des Bahnwärters an seiner Bahnstrecke in Schön-Schornstein an der Spree gezeigt werden. Der gutmütige, einfache Thiel, der seine erste Frau Marie hingebungsvoll liebt, heiratet nach ihrem Tod die vitale, dominante Lene: "Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau und wurde zuletzt in allem fast unbedingt von ihr abhängig"[4] Mit Lene hat Thiel ein zweites Kind, das den kleinen Tobias aus erster Ehe an den Rand drängt. Lene misshandelt und vernachlässigt Tobias; Thiel kann ihn in seiner Schwäche nicht schützen und zieht sich immer mehr in sein Bahnwärterhäuschen zurück, wo er in fast religiöser Weise der Erinnerung an seine erste Frau nachhängt. Unglücklicherweise kann er in unmittelbarer Nähe zu den Bahngleisen ein Stück Ackerland erwerben, das Lene bearbeitet. Als sie eines Tages mit dem Säugling und Tobias dort ist, verliert sie Tobias aus den Augen, der von einem heranrasenden Zug erfasst und getötet wird. Thiel verliert darüber den Verstand und tötet in Wut und Wahnsinn die Frau und ihr Kind. Die Verfolger finden ihn am Bahngleis mit Tobias' Pudelmützchen im Arm, das er mit eifersüchtiger Sorgfalt und Zärtlichkeit[5] festhält.

In Hauptmanns novellistischer Studie verbinden sich naturalistische Darstellung eines Geschehens mit ins Impressionistische und Symbolistische vorausweisenden Elementen. Die real erfahrbare Umgebung an der Bahnstrecke und der umliegende Wald verweben sich mit Thiels Innenwelt. Für den Naturalismus ist typisch das Interesse am Arbeitermilieu, an Thiels und Lenes sexueller Triebhaftigkeit sowie der geistig-seelischen Zerrüttung Thiels. Diese Zustände spiegeln sich oder werden symbolisch aufgegriffen in der Darstellung der Eisenbahnstrecke ("Die schwarzen parallellaufenden Geleise darauf glichen in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren eisernen Netzmasche."[6]), dem Wald ("Taumelnd erhob er sich, noch immer währte seine Herzensangst. Der Wald draußen rauschte wie Meeresbrandung..."[7]) und den Bäumen ("Die Stämme der Kiefern streckten sich wie bleiches, verwestes Gebein zwischen die Wipfel hinein, die grauschwarze Moderschichten auf ihnen lasteten."[8]). Intensiv wird hier ein Bild mit starker Farbsymbolik entworfen, voller eindrücklicher Vergleiche und Symbole, die der unerhörten Begebenheit eine ganz besondere Tiefe geben. Die Novelle hat hier eine weitere Facette ausgebildet.

Fortführung der Novelle im 20. Jahrhundert

Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts endet zunächst die Begeisterung für die Novelle. In der literarischen Moderne erscheint die Novelle formal zu stark begrenzt, zu eingeengt durch die verschiedenen Definitionsversuche der vorangegangenen Jahre. Sie erscheint nicht mehr geeignet für die Darstellung des zerrissenen Individuums in einer unübersichtlichen Zeit. Zudem kommt mit der amerikanischen Kurzgeschichte bereits Ende des 19. Jahrhundert eine Erzählform auf, die der Novelle ähnelt, aber mehr poetischen Freiraum verspricht. Typisch für die short story ist das Ausschnitthafte, die Momentaufnahme aus einem Leben, in der sich ein Konflikt, eine Beziehungskonstellation oder eine Empfindung schlaglichtartig zeigt. Der unvermittelte Anfang, die Hinführung auf einen Wende- oder Höhepunkt hin sowie das offene Ende sind formale Kennzeichen vieler Kurzgeschichten. Sprachlich wenden sich diese Erzählungen der einfachen Alltagssprache zu; die Figuren sind in einem Ausschnitt ihres Lebens zu sehen, an dem sich etwas Symptomatisches zeigt oder eine Entscheidung ansteht. Aber auch die short story zeigt vielfältige Formen und reicht von den atmosphärisch dichten Anfängen bei E.A. Poe bis zur short short story der Moderne.

Die Novelle existiert trotz allem weiter, teilweise direkt im Titel (Schachnovelle bei Stefan Zweig) oder Untertitel wie bei Thomas Manns Tonio Kröger. Auch Günter Grass' 'Katz und Maus' sowie Christoph Heins Erzählung 'Drachenblut' bezeichnen sich im Untertitel als Novelle. Neueren Datums ist die Novelle 'Die Verteidigung des Nichts' (1998) von Hartmut Lange, eine von drei 'Italienische Novellen'. Die Handlung ist streng durchkomponiert und konzentriert auf das Ereignis, dessen Vorlage Lange in einer Zeitungsnotiz fand: Ein italienischer Vater hatte seinen Sohn, der an einer unheilbaren Nervenkrankheit litt, auf dessen Wunsch hin erschossen. Danach hatte der Vater sich selbst ebenfalls getötet. In der Novelle zeigt der Erzähler zunächst das alltägliche Leben der Familie Mambrini, zu der der Sohn Antonio gehört, der gerade Abitur macht. Er ist der Stolz der Eltern und seiner kleinen Schwester. Die ganze Familie erschrickt, als er an einem Morgen unerklärlicherweise mit seinem Mofa gegen eine Hauswand fährt. Glücklicherweise ist ihm kaum etwas passiert und das Leben geht scheinbar normal weiter. Aber in der Normalität hat sich etwas Unbegreifliches, Unheimliches und Bedrohliches gezeigt. Zunächst wird ein neues Mofa gekauft, aber wiederum verunfallt Antonio unerwartet damit. Zögernd begreift die Familie, dass Antonio krank ist, dass er ein unheilbares neurologisches Leiden hat. Innerhalb der Familie wird überlegt, wie man Antonio helfen kann. Die Entscheidung fällt auf den Vater, der erst den Sohn, dann sich selbst am Rande eines Maisfeldes erschießt. Lange lässt den Erzähler diese Geschichte sehr sachlich, knapp und nüchtern vorbringen, aber es lässt sich auch hier eine symbolische Aufwertung einzelner Situationen oder Beobachtungen nachweisen.

So ist die Novelle auch heute noch eine lebendige Form des Erzählens, in der die Tradition fortlebt und die unerhörte Begebenheit immer wieder aufs Neue eingefangen und gestaltet wird.

[1]Gespräch vom 18. Januar 1827, zitiert nach Goethes Werke, hrsg. von Erich Trunz, Wegner Verlag, Hamburg 1960, Bd. VI, S. 725. [2]Paul Heyse, Vorwort zu "Deutscher Novellenschatz", zitiert nach Deutschbuch 9, Cornelsen, Berlin 2007, S. 175. [3]Friedrich Theodor Vischer, "Über Roman und Novelle", in:  Theorie der Novelle, Herbert Krämer (Hrsg.) (Stuttgart: Reclam, 2005) S. 36. [4]Gerhart Hauptmann, Bahnwärter Thiel, hrsg. F. Martini  (Stuttgart: Reclam, 1980) S. 6. [5]Bahnwärter Thiel, a.a.O. S. 40). [6]Bahnwärter Thiel, a.a.O., S. 18. [7]Bahnwärter Thiel, a.a.O., S. 19. [8]Bahnwärter Thiel, a.a.O., S. 35


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