Das Thema Ödipus in der Moderne
Frei von Überlegungen - Ödipus im Zeitalter der Aufklärung
Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, versucht man der Geschichte mithilfe des Verstandes beizukommen. Der Schriftsteller Johann Christoph Gottsched stellt sich die für unsere Zeit bereits nachvollziehbare Frage, warum Ödipus nicht die logische Überlegung getätigt hat, einfach niemanden zu ermorden. Wäre er allen Gewalttaten aus dem Weg gegangen, hätte er sein Schicksal abwenden können. Ein weiterer Vorwurf in diesem Zusammenhang ist die arglose Heirat mit einer wesentlich älteren Frau. Es ist ein interessantes Merkmal dieses Zeit, dass nicht mehr Ödipus' Stärke bewundert wird, sein Schicksal anzunehmen, sondern nach Wegen zur Vermeidung desselben gesucht wird.
Frei von Tabus - Ödipus als Symbol des modernen Menschen
Ein neuerliches Hoch erlebte der alte Mythos durch die Theorie des Wiener Neurologen Sigmund Freud, nach der die Handlungsweise des Ödipus den intimsten, jedoch verdrängten Wünschen des Menschen entspricht. In der Psychoanalyse wurde diese Theorie als Ödipuskomplex weltberühmt - und unlängst durch neue Einsichten des Psychologen Klaus Schlagmann wieder in Frage gestellt. Dieser gibt Iokaste eine zentralere Rolle - war sie es doch, die den Säugling aussetzte, dann den wesentlich jüngeren Mann heiratete, der dem verstorbenen König ähnelte und die ihn bis zuletzt daran hindern wollte, weiter nachzuforschen.
Egal, wie viele unterschiedliche Geisteshaltungen noch auf den Ödipus projiziert werden, sie haben alle eine gemeinsame Aussage: Die Faszination des uralten Mythos ist seit seiner Entstehung ungebrochen, das Drama hat nichts von seiner Brisanz verloren - und wir dürfen weiterhin gespannt bleiben, in welchen Varianten die Gestalt des Ödipus noch in Kunst und Literatur auftaucht.