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Philosophische Gedanken zur Peinlichkeit

Von: Jens Berger / Sendung: Reinhard Schlüter

Stand: 11.06.2014 | Archiv

Beschämt - blamiert: Philosophische Gedanken zur Peinlichkeit

Ethik und PhilosophieMS, Gy

Peinlichkeit und Scham: Könnten wir doch ohne sie leben! Aber wäre das wirklich besser? Bewahrt uns Peinlichkeit vor Raufereien? Hält Scham die Gruppe zusammen? Eins ist sicher: Viele Normen und Tabus sind zur Zeit im Umbruch.

Ertappt!

Da bastelt man über viele Jahre an einem schönen Bild von sich, glaubt, der Familie, den Freunden und Kollegen weißmachen zu können, man sei geschickt, klug oder anständig. Und dann das: Fehltritt, Irrtum, Blamage! Das Bild stimmt wohl doch nicht so ganz; man wurde erkannt und will im Boden versinken.

Wenn wir unter Zeugen dieses Bild von uns verletzen, ist uns das peinlich; haben wir es auch uns selbst gegenüber aufgebaut, schämen wir uns - zum Beispiel, wenn die guten Vorsätze wieder nicht eingehalten wurden.

Blamierte Prominente und ihre Gegenmittel

So unschön diese Erlebnisse sind, so gierig verfolgen wir dann doch die medial ausgekosteten Blamagen der Prominenten. Wir vermuten insgeheim, dass ihr so beneidenswerter Schein gar nicht stimmen kann. Doch gerade vielen Mächtigen - oder zumindest Machtbesessenen - ist oft gar nichts mehr peinlich. Als schamlose Narzissten sind so von sich überzeugt, dass dieses Bild auch von realen Ereignissen und Fehltritten kaum gebrochen werden kann. Ihre Persönlichkeitsstruktur sorgt für innere Stabilität.

Auch auf anderem Wege kann man sich unverwundbar gegen Blamagen machen: Man sucht die Peinlichkeiten nach dem Motto "Ist der Ruf erst ruiniert, ...". Wer überhaupt erwähnt wird, hat in den Medien schon gewonnen, sei es durch lustige und irgendwie liebenswerte Tolpatschigkeiten, aber auch durch Ehestreit, Drogenmissbrauch oder Verlust der Contenance.

"Er macht sich nie peinlich - das ist auch irgendwie peinlich."

Dieser strategischen Selbstentblößung steht seit einigen Jahren in den sozialen Netzen eine Tendenz zur Veröffentlichung der eigenen Unzulänglichkeiten gegenüber ("Schaut mal: Plätzchen backen kann ich auch nicht."). Es ist schon fast peinlich, wenn man sich dem wiederum verweigert. Was steckt dahinter? Sind die alten Normen und Formen nicht mehr wichtig? Oder verschiebt sich nur ihre Rangfolge? Tritt als neues Ideal an die Stelle der Makellosigkeit nun die Selbstehrlichkeit?

In der Tat wäre es recht unwahrscheinlich, dass eine der ältesten Kulturleistungen der Menschheit plötzlich aufgegeben wird: Denn durch das Empfinden von Peinlichkeit und Scham hält die Gruppe zusammen und umgeht gefährliche Konflikte. Wie das? Nur wer fürchtet, nicht mehr geliebt und aus der Sippe ausgestoßen zu werden, akzeptiert und verinnerlicht die Gruppenregeln und versucht, ein gutes Mitglied zu sein.

Kultur fördert Scham?

Mit einer immer komplexer werdenden Gesellschaft wuchsen allerdings auch die Abhängigkeiten. Man gehört heute nicht mehr nur zu einer einzigen kleinen, selbstversorgenden Gruppe, sondern gleichzeitig zu mehreren verschiedenen mit jeweils eigenen Regeln und Maßstäben.

Das führt dazu, dass man vielfältige und oft widersprüchliche Bilder von sich erstellen und sein Handeln sorgsam zwischen ihnen austarieren muss. Dabei wird man auch sensibler bei der Beobachtung Anderer. Heute reagiert man auf eine abschätzige Bemerkung mit dem gleichen Stresslevel wie in Urzeiten auf einen tätlichen Angriff. Immerhin: Lieber blamiert als verbeult!


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