Wie Bayern zum modernen Staat wurde
Geschichte | MS ,RS, Gy |
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Architekt, Schöpfer des modernen Bayern. Montgelas scheint auf Ehrentitel und Lobeshymnen abonniert. Was ist dran am 'Mega-Montgelas'? Alles nur Historiker-Hype? Oder war er Ahnherr und Gestalter staatlicher Gegenwart?
Manchmal fangen größte Dinge ganz klein an. So wie am 30. Juli 1801 in München. An diesem Tag erhält Johann Balthasar Michel das Bürgerrecht. Der Mannheimer Wein- und Pferdehändler darf sich in der Residenzstadt niederlassen, Zunftmitglied werden, einen Ausschank betreiben. Ein unerhörter Vorgang! Denn Michel ist Protestant. Und die haben in Bayern nichts zu suchen. Der Fürst bestimmt die Religion seiner Untertanen, und der Fürst ist katholisch. So ist es Brauch und Gesetz seit der Gegenreformation.
Der Kurfürst befiehlt Toleranz
Wie kommt dann Michel zu seiner Urkunde? Auf Umwegen, und zwar sehr bezeichnenden. Zunächst schmettern die Ratsherrn mehrere Ansuchen des Kaufmanns ab, lassen ihn zappeln, zwei Monate lang. Dann spielt der Mannheimer seinen letzten Trumpf aus: Er bittet Max IV. Joseph um Hilfe. Der neue Kurfürst regiert seit zwei Jahren und gilt als aufgeklärter Geist. Er wird seinem Ruf gerecht. In einem Handschreiben, das an Deutlichkeit nichts missen lässt, stutzt er die Stadtoberen gehörig zurecht: "Nach reiflicher Überlegung und der Gewissheit, dass das Recht auf meiner Seite ist, befehle ich hiermit meinem Stadtmagistrat, spätestens morgen abends um sechs Uhr, dem Handelsmann Michel von Mannheim das Bürgerrecht zu erteilen, widrigenfalls ich mich genötigt sehen würde, die strengsten Mittel zu ergreifen". Das Machtwort wirkt. Der Magistrat kuscht, Michel wird Münchner.
Die Chefetage stößt den Wandel an
Ein Weinwirt wird Bürger, na und? Ganz so nebensächlich ist das nicht. Was da im Juli 1801 geschieht, ist der Auftakt einer umfassenden Modernisierung, die Bayern in den Jahren zwischen 1799 und 1818 durchgreifend verändert. Und es macht mit den Mechanismen zugleich die treibenden Kräfte dieser gewaltigen Umwälzung sichtbar: Der Sturm gegen das alte Bayern beginnt ganz oben, auf der Chefetage. Nicht aufbegehrende Untertanen lösen ihn aus, sondern der Kurfürst selbst und ein Kreis kritischer Köpfe, denen Vernunft, Effizienz und Pragmatismus als oberste Leitlinien staatlichen Handelns gelten. Dem Geist der Aufklärung verpflichtet, sind diese Reformer bereit, überkommenes Denken und verkrustete Strukturen ohne Rücksicht auf ständische, adlige oder religiöse Empfindlichkeiten rigoros abzuschaffen. Per Dekret, und wenn nötig, unter Einsatz "strengster Mittel".
Ein Visionär mit klaren Zielen
Im Zentrum des Modernisierungsbebens steht Maximilian Joseph von Montgelas. 1759 in München geboren, Sohn eines bayerischen Generals mit Wurzeln in Savoyen, in Straßburg und Ingolstadt zum Juristen ausgebildet, mit den Idealen der Aufklärung und der Französischen Revolution vollgesogen, steigt er 1796 zum engsten Berater des Herzogs Maximilian Joseph von Pfalz-Zweibrücken auf. Bereits damals ist absehbar, dass sein Dienstherr die Nachfolge des kinderlosen bayerischen Kurfürsten Karl Theodor antreten wird. Für diesen Erbfall entwirft Montgelas mit dem "Ansbacher Mémoire" ein Programm, das seine Vorstellungen eines straffen, zentralisierten und modernen Staates bündelt. Gewidmet ist das Papier dem gnädigsten Landesherrn, der es intensiv studiert und verinnerlicht.
Der Umbau Bayerns beginnt
Am 21. Februar 1799 hat das Warten und Planen für beide ein Ende: Maximilian IV. Joseph zieht als neuer Kurfürst in München ein. Montgelas bleibt sein engster Mitarbeiter, Einflüsterer und Ideengeber, sein Mann fürs Große und Ganze. 18 Jahre lang, in denen Montgelas teils gleichzeitig als Außen-, Finanz- und Innenminister fungiert, baut er rastlos Akten studierend, Konzepte verfassend, Briefe schreibend, Gespräche führend, Drähte ziehend an der Neuordnung Bayerns: ein loyaler Diener, seines fürstlichen Herrn, ein unerschrockener Innovator, geschickter Diplomat und aus Sicht vieler Historiker vielleicht "der fähigste Staatsmann, der je die Geschicke des Landes lenkte". Sein selbstauferlegtes Pensum ist gewaltig, die Arbeitslast immens, das Reformwerk ständig durch innere und äußere Widerstände, durch Finanzprobleme und Kriege bedroht.
Gleiches Recht für alle
Um seine Vision eines effizienten, modernen Staates zu verwirklichen, braucht Montgelas vor allem eins: gut ausgebildete, loyale, unbestechliche Verwaltungsexperten. Durch eine Reihe grundlegender Veränderungen bringt er das rückständige Beamtentum auf Reformkurs. Der Behördenapparat wird auf allen Ebenen völlig neu geordnet, zentralisiert, gestrafft, rationalisiert. Montgelas führt fünf Fachministerien ein, die strikt nach dem Ressortprinzip arbeiten und erstmals für ganz Bayern zuständig sind. Der Zugang zum höheren Staatsdienst ist nicht mehr dem Adel vorbehalten. Er steht nun jedem offen, der sich durch Ausbildung, Sachverstand und Leistung qualifiziert. Die Beamten werden fest besoldet, sind gegen willkürliche Entlassung geschützt, durch Fürsorgemaßnahmen abgesichert. Zug um Zug erfasst ein egalitärer Umbau jeden Bereich des staatlichen und bürgerlichen Lebens: Alle Untertanen sind von vor dem Gesetz, der Justiz und dem Fiskus gleichgestellt. Ständische Privilegien gibt es nicht mehr. Die Steuerbefreiung des Adels und seine rechtliche Sonderstellung sind abgeschafft. Der Gleichheitsgrundsatz regelt auch die konfessionelle Frage: Die katholische Kirche verliert ihren Sonderstatus, Katholiken, Protestanten und Calvinisten sind gleichberechtigt, die evangelische Kirche genießt die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts.
Die Konstitution von 1808
Den Kern seines Reformwerks sichert Montgelas in der ersten geschriebenen Verfassung Bayerns. Sie wird am 1. Mai 1808 verkündet, tritt am 1. Oktober desselben Jahres in Kraft und ist Meilenstein auf dem Weg vom Stände- zum Verfassungsstaat. Das Dokument verankert die Reorganisation der Verwaltung und ihre neu geschaffenen Strukturen, besiegelt die Abschaffung der Landstände und die Aufhebung der Leibeigenschaft, garantiert das Eigentum und den Schutz vor staatlicher Willkür, gewährt Gewissens-, Presse- und Religionsfreiheit. Ein überraschendes Novum ist die Errichtung einer "Nationalrepräsentation". Von einer demokratischen Volksvertretung im heutigen Sinn kann bei diesem Parlament allerdings nicht die Rede sein. Das aktive und passive Wahlrecht steht ausschließlich jenen "200 Land-Eigentümern, Kaufleuten oder Fabrikanten" eines Kreises zu, die dort die höchsten Grundsteuern zahlen. Zudem haben die Deputierten nur beratende, aber keine gesetzgebende Funktion. Zusammengetreten ist die Nationalrepräsentation überdies nie, sie bleibt bis zur zweiten bayerischen Verfassung von 1818 reine Absichtserklärung.
Reformpolitik als Veränderungsmanagement
Eine wesentliche Triebfeder der Reformdynamik, die Montgelas im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entfaltet, ist die schiere Notwendigkeit, auf territoriale Veränderungen und Verschiebungen im europäischen Machtgefüge zu reagieren. Durch die Einverleibung geistlicher Herrschaften im Zuge der Säkularisation und den Zugewinn mediatisierter Besitzungen wächst das Staatsgebiet zwischen 1802 und 1806 erheblich. Da die neu hinzugekommenen schwäbischen und fränkischen Reichsstädte mehrheitlich protestantisch geprägt sind, lässt sich die altbayerische Privilegierung des Katholizismus nicht länger aufrechterhalten. Die rechtliche Gleichstellung der Konfessionen wird zur unumgänglichen Voraussetzung staatlicher Einheit. Der Integrationsdruck, den die territoriale Erweiterung erzeugt, ist enorm: Ehemals eigenständige, nur dem Reich unterstellte Gebiete und Körperschaften müssen kulturell, politisch und organisatorisch eingebunden werden. Im Rahmen der veralteten, ständisch geprägten und durch Sonderrechte zersplitterten Strukturen ist dieser Neubau nicht zu stemmen. Dazu bedarf es eines geschickten Veränderungsmanagements und furchtloser Umbrüche, wie sie Montgelas entschlossen in Angriff nimmt.
Eine Krone für den Seitenwechsel
Nicht minder weitsichtig stellt sich Montgelas den außenpolitischen Problemen einer gärenden Umbruchszeit. Zu den drückenden Erblasten, die er mit seinem Amtsantritt übernimmt, zählt nicht zuletzt das angespannte Verhältnis zu Österreich. Franz II., Erzherzog von Österreich und deutscher Kaiser, macht Besitzansprüche am Kurfürstentum geltend. 1805 spitzen sich die Dinge bedrohlich zu. Eine Koalition aus England, Frankreich und Russland bereitet einen erneuten Krieg gegen Napoleon vor. Als sich der bayerische Kurfürst weigert, dem Bündnis beizutreten, rücken österreichische Truppen in Bayern ein.
"Singet im Jubelton, preiset Napoleon"
Montgelas ist gerüstet. Er hat sich mit Frankreich verständigt und einen geheimen Bündnisvertrag geschlossen. Beide Seiten hoffen auf Profit: Bayern braucht Schutz gegen die habsburgischen Annexionsgelüste, Napoleon braucht gestärkte deutsche Mittelstaaten, um Preußen und Österreich zu schwächen. Im Oktober 1805 schlagen französische Truppen die österreichischen Verbände auf bayerischem Boden, am 24. Oktober 1805 zieht Napoleon unter frenetischem Jubel der Bevölkerung in München ein. Im Gegenzug kämpfen bayerische Truppen im Dezember an der Seite Napoleons bei Austerlitz, wo Russland und Österreich der Grand Armée unterliegen. Zum Dank für die Waffenhilfe erhält der bayerische Kurfürst neben österreichischen Besitzungen in Schwaben das Recht, den Königstitel zu führen. Am 1. Januar 1806 proklamiert Maximilian I. Joseph seine neue Würde. Bayern, bislang als Kurfürstentum ein Lehen des Reichs, ist nunmehr ein souveräner Staat eigenen Rechts.
Montgelas wechselt erneut die Fronten
Die Rangerhöhung hat ihren Preis, und Napoleon fordert ihn ohne Abschläge ein. Im Juli 1806 tritt Bayern mit 16 weiteren deutschen Staaten dem Rheinbund bei, einer Offensiv- und Defensivallianz unter französischer Vormundschaft. Die Bundesgenossen verpflichten sich zu gegenseitiger Militärhilfe und werden so wahllos in jeden Krieg des Kaisers verwickelt. Obwohl Bayern durch das Bündnis weitere Gebiete hinzugewinnt, verfliegt die Napoleon-Euphorie zusehends. Die drückende Übermacht Frankreichs beschränkt die Souveränität der Mitgliedsstaaten, die Kriegslasten leeren die Kassen, vor allem in Bayern, das die größten Truppenkontingente stellt. Die Stimmung wendet sich mehr und mehr gegen Napoleon, sein Stern ist im Sinken. Als auf dem desaströsen Russlandfeldzug von 1812 über 30.000 bayerische Soldaten sterben, ist das Maß voll. Montgelas zieht die Konsequenzen. Erneut überredet er seinen Dienstherrn zu einem Seitenwechsel. Am 8. Oktober tritt Bayern aus dem Rheinbund aus und schließt sich, von Österreich gedrängt, einer Allianz gegen Napoleon an. Im Gegenzug garantiert Österreich die volle Eigenständigkeit und den Besitzstand des Königreichs.
Ein Erfolgsmodell hat sich überlebt
Die Befreiungskriege fegen nicht nur das napoleonische System hinweg. Auch Montgelas hat den Zenit seiner Macht überschritten. Seine radikalen Reformen, seine Visionen, sein politisches Genie und sein diplomatischer Weitblick haben Bayern grundlegend verändert. Ein souveränes Königreich ist entstanden, der fortschrittlichste Staat Europas, innenpolitisch gefestigt und außenpolitisch gestärkt. Aber die Tage des Staatsministers sind gezählt, der Widerstand gegen den allmächtigen Staatsmann und seine Ämterhäufung wächst. Montgelas ist zunehmend isoliert, überlastet und gesundheitlich angeschlagen. Eine vom Kronprinzen Ludwig, hohen Militärs und Ministerialbeamten angeführte Opposition arbeitet an der Ablösung des Ministers. Am 2. Februar 1817 erreicht sie ihr Ziel: Maximilian I. Joseph unterzeichnet die Entlassungsurkunde, die Ära Montgelas ist zu Ende. Aber sein Werk überdauert. Es gibt dem Flickwerk Bayern einen politischen Rahmen, der seine Stabilität und Integrationskraft bis heute bewährt.