Die relativierte Revolution
Psychologie | Gy |
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Sigmund Freuds Erklärung des menschlichen Seelenlebens veränderte unser Selbstbild von Grund auf. Heute ist jedoch nicht mehr jede seiner Annahmen zu halten; statt schamhafter Verdrängung geraten Bindungswünsche in den Blick.
Freuds tiefer Blick in die Abgründe der menschlichen Seele
Als Sigmund Freud seine Theorie der Psychoanalyse entwickelte, galten im europäischen Raum ganz bestimmte Tabus, moralische Instanzen und Rollenbilder. So erklärt sich, dass er die seinerzeit stark aus der Öffentlichkeit verdrängte Sexualität als heimlichen Haupttrieb des Menschen sah. Die Psychoanalyse, dieser völlig neue Blick des Menschen auf sich und die unbewussten Gründe seines Handelns, hat jedoch Prozesse der Selbstwahrnehmung in Gang gesetzt und in hohem Maße auf die Gesellschaft rückgewirkt. Man bohrte tiefer, erklärte sich die Menschen nicht mehr nur aus dem, was sie sagen und tun, sondern mutmaßlich in ihrer Kindheit erlebt haben mögen. Gesellschaftliche Veränderungen und neuere Erkenntnisse der Forschung trugen so dazu bei, dass das ursprüngliche Konzept der Psychoanalyse heute in einigen Punkten überholt ist, z. B. in der Überbetonung von schamhaft Verdrängtem oder von Vaterfiguren als moralischen "Leitplanken" bei der kindlichen Entwicklung.
Was haben wir heute aus der Psychoanalyse gemacht?
Freud legte in seinem System der Psychoanalyse Begriffe fest, mit denen heutige Psychologen und -therapeuten immer noch arbeiten, doch haben sich mittlerweile einige Grundannahmen geändert. Auch sieht man zwar immer noch im Traum einen wichtigen Schlüssel zum Unbewussten, doch seine Funktion ist eine andere: War er bei Freud noch die Erfüllung eines triebhaften Wunsches ("Ach, könnte ich doch nur ...!"), deutet man ihn heute eher als einen Lösungsversuch; das Hirn spielt schon mal durch, wie man im wirklichen Leben mit einer Situation umgehen könnte ("Wie geht es mir wohl, wenn ... passiert?") Und dabei spielen nicht mehr nur sexuelle Triebe, sondern alle möglichen Arten sozialer Bindungen eine große Rolle; die Bindungstheorie hat die Triebtheorie abgelöst. Damit erweitert sich auch die Bedeutung eines der großen Schlagworte der Psychoanalyse, des "Ödipuskomplexes" - heute wird er nicht mehr auf die sexuelle Anziehung zur Mutter beschränkt, sondern für ein allgemeineres Kindheitsdilemma im Spannungsfeld von Ausgeschlossen-Sein und Dabeisein-Wollen angewendet ("Die lassen mich nicht mitspielen!").
Grundkritik an der Psychoanalyse
Von Beginn an und bis jetzt sah sich die Psychoanalyse jedoch großer Kritik ausgesetzt: "Ist das überhaupt eine wissenschaftliche Theorie?" "Das hat doch viel mehr mit Gedichtinterpretation zu tun als mit Medizin!" Das Grundproblem: Was Psychoanalyse macht - und was Freud über ihre theoretischen Zusammenhänge behauptet -, lässt sich nicht oder nur sehr schwer in Experimenten belegen oder widerlegen. Und damit haben Mediziner, Biologen und Psychologen so ihre Schwierigkeiten, denn dies ist ja ein Grundkriterium von Wissenschaft.
Was ist Psychoanalyse dann? Ist sie eher der Philosophie zuzurechnen? Man ist sich noch nicht einig geworden. Trotz aller Fortschritte im Bereich der Tiefenpsychologie haben sich Lager, Schulen und Anhängerschaften erhalten - gerade unter den Therapeuten gibt es immer noch große Grabenkämpfe.
Einfach wegzudiskutieren ist die Psychoanalyse jedenfalls nicht mehr - den väterlichen Übervater Freud anzuhimmeln oder vehement abzulehnen, zeigt, dass da vielleicht irgendwas "noch nicht ganz aufgearbeitet ist".