Mut zur Schwäche
Psychologie | MS, RS, Gy |
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"Aus einem verzagten Arsch", sagt Luther, "fährt kein fröhlicher Furz!" Mit dem Selbst ist es genauso: Eine verzagte Seele verdüstert das Leben. Denn wer sich selbst nicht wertschätzt, kann nichts und niemanden wirklich genießen.
Diese Stimme lässt nicht locker. Sie beißt sich fest. Sie ist immer da, kommentiert unentwegt und alles. Vor allem aber wertet sie. Unerbittlich, gnadenlos, gemein: "Du taugst nichts". "Du kannst nichts!" "Du bist faul, hässlich, schwach, verlogen, verfressen, verdorben, schlecht!" Das hört sich nicht gut an. Und das fühlt sich nicht gut an. Wer sich dauernd innerlich so niedermacht, wer sich fortwährend zwanghaft anprangert und immerzu vor den inneren Scharfrichter zerrt, braucht keine Feinde mehr. Solchen Menschen misslingt vieles, weil sie das Meiste nur halbherzig tun und sich selbst im Weg stehen. So jemand dünstet miese Laune aus, macht sich selbst und anderen das Leben sauer. Das schreckt ab, macht düster und einsam.
Erste Reihe oder Hinterbank im Leben?
Aber die innere Stimme kann auch freundlich sein, stützend, versöhnlich, ermutigend, heilsam: "Das kriegst du schon hin"! "Das ist nicht so schlimm". "Fehler machen doch alle!" "Dich mögen die meisten einfach wirklich gern, gerade so, wie du bist"! Das klingt nicht nur anders, das fühlt sich auch ganz anders an. Nicht so verbissen, verbiestert und verprellt, sondern gelassen, zuversichtlich, tatkräftig, lebenstüchtig, gewinnend. Solchen Menschen gelingt einfach alles, und wenn doch einmal etwas schief läuft, ist es auch kein Beinbruch. So jemand strahlt Kraft aus, Mut und Lebensfreude. Das steckt an, macht beliebt und erfolgreich.
Oberste Daseinsinstanz und Seelenflüsterer
Zwei sehr unterschiedliche Stimmen und zwei grundverschiedene Stimmungen. Welche wir als Leitstimme in uns hören und spüren, welche uns prägt und das Drehbuch unseres Lebens schreibt, hängt von unserer Selbsteinschätzung ab. Psychologischer formuliert: Von unserem Selbstwertgefühl. Dieses interne Richtmaß für den eigenen Wert oder Unwert ist die oberste Instanz unserer Daseinsorientierung. Das Selbstwertgefühl bestimmt entscheidend darüber, wie wir uns selbst und andere wahrnehmen, was wir von uns selbst und anderen erwarten, wie wir unsere Beziehungen gestalten und kommunizieren, wie wir mit uns selbst, mit anderen Menschen und dem Leben insgesamt zurechtkommen.
Selbstmiesmacher oder Selbstmutmacher?
Doch woher kommt es, dass die einen als Selbstmiesmacher versauern und die anderen als Selbstmutmacher den Rahm abschöpfen? Einen Teil unseres Selbstwertgefühls, darin stimmen die meisten Entwicklungspsychologen überein, prägt ganz einfach die Mitgift der Gene. Manche Kinder neigen erblich bedingt zu stärkeren, andere zu schwächeren Angstgefühlen, manche kommen mit mehr, andere mit weniger seelischer Widerstandskraft zur Welt. Neben dieser Veranlagung spielen die Erziehung im Elternhaus und das soziale eine große Rolle. Kinder, die von einer sicheren Elternbindung getragen sind, die sich mit all ihren Schwächen und Stärken bedingungslos angenommen und willkommen wissen, die ermutigt werden, sich auszuprobieren und ihre Kompetenzen altersgemäß auszuweiten, entwickeln bezeichnend häufiger ein stabiles Selbstwertgefühl. Kinder, die sich nicht angenommen und willkommen fühlen, unter brüchigen Elternbindungen leiden und in einer Atmosphäre der Ängstlichkeit und unterdrückter Lebensfreude aufwachsen, tendieren dagegen deutlich zu einem instabilen, schwachen Selbstwertgefühl.
Selbsterfüllende Prophezeiungen
Je älter wir werden, desto mehr härten die zunächst durch Eltern und Geschwister, später durch Schule und Freundschaften gewonnenen Erfahrungen zu stabilen Selbstkonzepten und Selbstgewissheiten aus. Wir werden immer mehr zu dem, was wir über uns gelernt haben, werden immer mehr zu unseren eigenen, schwer revidierbaren Selbstwert-Glaubenssätzen. Wer gelernt hat, sich als Versager einzuschätzen, wenig Selbstvertrauen und Angst vor Niederlagen hat, wird wenig wagen und so auch wenig erreichen. Wer dagegen gelernt hat, sich selbst zu vertrauen, wer seine Stärken kennt und auch Rückschläge einstecken kann, probiert mehr aus und erhöht alleine schon dadurch seine Chancen auf Erfolg. Besonders fatal respektive segensreich an dieser lebenslang praktizierten Selbstkonditionierung ist die entweder negativ oder positiv verstärkende Rückkopplung: Jeder Erfolg stärkt, jeder Misserfolg schwächt unser Selbstwertgefühl.
Angst verkrümmt, Angst macht gefährlich
Und wenn schon! Der eine hat eben Pech, der andere Glück mit sich selbst! So einfach ist das leider nicht. Ob jemand ein starkes oder ein schwaches Selbstbewusstsein hat, ist mehr als reines Privatschicksal. Zum einen, weil das Selbstwertgefühl auf alle zwischenmenschlichen Beziehungen durchschlägt und sowohl die verbale wie auch die nonverbale Kommunikation steuert. Wer sich ängstlich, unsicher und benachteiligt fühlt, macht zwangsläufig jeden Mitmenschen zum Mitgefangenen der eigenen Ängste und Kompensationsstrategien. Mangelndes Selbstvertrauen erzeugt Narzissten, die ihre heimlichen Versagens- und Minderwertigkeitsängste durch Größenfantasien, Perfektionismus, Geltungsstreben und Dominanzgebaren auszugleichen versuchen. Mangelndes Selbstvertrauen gebiert dauergekränkte Mimosen und den versteckten oder offenen Neid der vermeintlich Zukurzgekommenen und Betrogenen. Und vor allem brütet mangelndes Selbstvertrauen die Aggressionen, den Hass und die Wut all derer aus, die sich von ihren Ängsten überschwemmen lassen, die sich als gefühlte Opfer zu Notwehr und Rache berechtigt wähnen. Wird der Druck zu groß, wird die Dauerkränkung des Selbstwertgefühls zu schmerzhaft und die als Angst erlebte Überforderung durch das Leben zu bedrohlich, wächst die Gefahr eines explosiven Befreiungsschlages. Individuelle Amoktäter und erst recht kollektive Angsthorden, die ihre autoaggressiven Minderwertigkeitsgefühle plötzlich nach außen umstülpen und sich im Schutz des Rudels für erlittene Demütigungen und Opferfantasien schadlos halten, gefährden die öffentliche Sicherheit, sind brandgefährliche politische Zeitbomben.
Selbstvertrauen säen, Sicherheit ernten
Allein schon deshalb lohnt es sich, frühzeitig und im Interesse aller so energisch wie sachkundig gegen jegliche Ausgrenzung, Stigmatisierung, Benachteiligung und gegen jede Art sozialer, psychischer und intellektueller Demütigung vermeintlich Schwächerer vorzugehen. Hier stehen vor allem die Einrichtungen der Früherziehung, die Schulen, Jugend- und Sportvereine in der Pflicht. Je mehr wir als Gesellschaft in die Entwicklung eines gesunden Selbstvertrauens und eines starken Selbstwertgefühls unserer Kinder und Jugendlichen investieren, desto reicher fällt die Ernte aus.