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Forscher auf den Spuren eines Mythos

Von: Simon Demmelhuber / Christian Feldmann

Stand: 05.03.2014 | Archiv

Illustration "Arche Noah" | Bild: Scherl/ Süddeutsche Zeitung Photo
ReligionMS, RS, Gy

Sie ist das Urbild aller Menschheitskatastrophen, eine Metapher der Bedrohtheit durch entfesselte Naturgewalten. Von der Sintflut erzählen fast alle Völker. Hat sie wirklich stattgefunden? Müssen wir die Wahrheit ganz woanders suchen?

Tosende Fluten, die alles verschlingen: Menschen, Tiere, Pflanzen, Berge, eine ganze Welt. Gott ist zum großen Kehraus bereit. Die Bosheit seiner Geschöpfe widert ihn an, er hat genug von Mord, Lüge, Meineid, Frevel und Betrug. Jetzt wird aufgeräumt und durchgekärchert! Vierzig Tage Dauerregen schickt der Herr, um den Unflat wegzuspülen, eine globale Schwemmentmistung auf höchstem Niveau.

Wasser marsch! - Zurück auf Start und Neubeginn

Aber das Ganze ist ein Showdown mit Notausgang. Denn Gott hat einen Plan: Erst Tabula rasa, dann Neuanfang! Einen unter den Todgeweihten wählt er aus, um den Neustart abzusichern. Diesen einen lässt er einen gewaltigen Holzkasten zimmern und wasserdicht versiegeln. Von allen Tieren je ein Paar, Männchen und Weibchen soll er darin bergen, damit sie mit ihm und seiner Sippe am Leben bleiben. Und während die Welt im Wasserchaos versinkt, tanzt die hölzerne Rettungsinsel unzerstört auf den Wogen. Nach 150 Tagen ist das Reinemachen vorbei. Die Fluten verlaufen sich, eine neue Erde steht blank poliert zur Zweitbesiedelung bereit.

Land unter! - Das Inferno als gemeinsames Menschheitstrauma

Noah natürlich. Der Gerechte, den Gott verschont und ausschickt, die Welt nach ihrer Säuberung neu zu bevölkern. Die Geschichte vom wässrigen Strafgericht und der Arche gehört zum Kernbestand der biblischen Überlieferung. Unzählige Male drastisch beschworen, gemalt, gepredigt und nacherzählt ist sie fest im kollektiven Bewusstsein des Abendlandes verankert. Aber einzigartig ist sie nicht. Fast alle Völker, Kulturen, Epochen und Kontinente kennen die Sage von der verheerenden Flut, gut 270 Versionen sind weltweit überliefert. Das Personal und die Kulissen wechseln, die große Linie bleibt: Eine zornige Gottheit ist des Menschengewimmels überdrüssig und inszeniert den Weltuntergang durch entfesselte Naturgewalten. Doch der Vernichtungsbeschluss ist nie das letzte Wort. Es gibt immer eine zweite Chance, einen Neuanfang, einen oder einige Verschonte, die das Inferno überleben und eine neue Zivilisation begründen.

Die große Flut: Mythos oder Realität?

Die beispiellose Universalität des Sintflutmotivs wirft viele Fragen auf. Wie kann es sein, dass Kulturen, die räumlich und zeitlich so weit auseinander liegen, die selbe verstörende Geschichte weitergeben? Ist es Zufall, dass sich altorientalische, asiatische, ozeanische, amerikanische, afrikanische und europäische Mythen eine gemeinsame Fluterzählung teilen? Oder steckt etwas anderes dahinter? Eine traumatische Menschheitserfahrung vielleicht, ein Urdesaster von so gewaltigem Ausmaß, dass es über alle Grenzen hinweg fest im globalen Katastrophengedächtnis verankert ist? Beruht der Mythos von der großen Flut im Kern auf einem tatsächlichen Ereignis, dessen Schrecken in mythischen und religiösen Traditionen weiterlebt?

Dammbruch am Bosporus oder himmlisches Geschoss?

Die Suche nach dem faktischen Kern der Sintfluterzählung treibt Forscher seit mehr als hundert Jahren um. Bereits in den 1920er Jahren führte der deutsche Astrologe Johannes Riem die 270 weltweit gestreuten Flutberichte auf den Einschlag eines Eismeteoriten in grauer Vorzeit zurück. In den 1990er Jahren nahm der österreichische Geologe Alexander Tollmann die These auf und postulierte den Einschlag eines in sieben Teile geborstenen Kometen vor etwa 10.000 Jahren als Auslöser einer globalen Flutwelle mit Erdbeben, Dauerregen, Stürmen und Finsternis. Wenig später präsentierten die amerikanischen Geolphysiker Walter Pitman und William Ryan ihre heftig umstrittene Behauptung vom Bruch einer flachen Landbrücke am Bosporus, die vor gut 7.500 Jahren Asien und Europa verband und das Mittelmeer vom Schwarzen Meer trennte. Als am Ende der letzten Eiszeit die Meerespegel durch Schmelzwasser anstiegen und der natürliche Damm nachgab, überschwemmten brachiale Sturzfluten das tiefer gelegene Schwarzmeerbecken. Die Überlebenden flohen und trugen den Untergangsbericht in alle Welt. Nur drei Theorien von vielen, bestätigt ist keine.

Die Arche und der Strandungsberg - Spurensuche am Ararat

Ararat

Während Wissenschaftler wie Pitman nach Belegen für die realhistorische Wirklichkeit eines weltumspannenden Flutdebakels fahnen, suchen selbsternannte und professionelle Archäologen seit über hundert Jahren nach Beweisen für die wörtliche Wahrheit der biblischen Überlieferung. Ihr bevorzugtes Ziel ist der Ararat im türkischen Ostanatolien, wo Noahs Arche laut Genesis aufgelaufen sein soll. An spektakulären Meldungen über angebliche Funde am 5600 Meter hohen Noah-Berg, an Nachrichten über Holzstücke, Planken, Eisenteile und Seilreste ist kein Mangel. Stichhaltig ist jedoch keines der vermeintlichen Sintflutzeugnisse, bislang konnte keine der zahlreichen Ararat-Expeditionen auch nur ein einziges belastbares Relikt der Arche bergen.

Ein Regenbogen als Zeichen - Die Gewissheit der zweiten Chance

Hat die Bibel also doch nicht recht? Alles nur erfunden und erlogen? Die Frage ist falsch gestellt, die Blickrichtung stimmt nicht. Das Fehlen des materiellen Nachweises für ein reales Urbild der großen Flut oder die Existenz der Arche lässt die eigentliche, die symbolische und religiöse Wahrheit der Überschwemmungsgeschichte unberührt. Diese Wahrheit ist weder mit Spaten zu ergraben noch mit Computern simulierbar. Sie besteht in einer zeichenhaften Gewissheit: Dass sich Gott zuletzt doch immer wieder seiner gestrauchelten Geschöpfe erbarmt, dass sie trotz aller kreatürlichen Bedrohtheit in seiner rettenden Hand geborgen sind und auf eine zweite Chance hoffen dürfen. Das ist die tröstliche Botschaft des Regenbogens, der nach dem Strafgericht den neuen Himmel überspannt.


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