Von Links, von Rechts und aus der Mitte
Soziale und politische Bildung | MS, RS, Gy |
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Viele in Deutschland lebende Juden sind verunsichert. Nicht nur an Stammtischen, auch auf der Straße und in Internetforen nehmen antisemitische Tendenzen zu. Juden werden beschimpft, bedroht und beleidigt.
Alltäglicher Antisemitismus in Deutschland
Vor Synagogen und jüdischen Schulen patrouilliert die Polizei. Demonstranten grölen Hassparolen gegen Israel - vor allem dann, wenn sich die Eskalationsspirale im Nahen Osten wieder einmal dreht. Juden, die Proteste gegen Übergriffe organisieren, bekommen zwar vereinzelt Rückendeckung, auch von führenden Politikern und Kirchenvertretern, aber ein "Aufstand der Anständigen", wie ihn der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder nach einem Brandanschlag auf eine Düsseldorfer Synagoge schon im Jahr 2000 forderte, bleibt aus. Die Mitte der Gesellschaft übt sich in Zurückhaltung.
Judenfeindschaft seit Jahrhunderten
Vorbehalte gegenüber Juden gab es schon in der heidnischen Antike. Denn sie akzeptierten mit ihrem konsequenten Monotheismus im Römischen Reich keinen Kaiserkult mit den dazugehörigen Opfern. Die eigentliche Gegnerschaft zum Judentum entstand in der Antike allerdings ausgerechnet im Christentum, das sich vom Judentum abkoppelte. Das Ergebnis: Polemik und Feindseligkeit zwischen Juden und Christen, die auf christlicher Seite in dem Vorwurf gipfelten, die Juden hätten sich geweigert, Jesus als den verheißenen Messias anzuerkennen, und ihn schließlich ermordet. Das ist der religiöse Kern des christlichen Antijudaismus.
Zum Ende der Antike war das Christentum zur römischen Staatsreligion aufgestiegen, während die Juden über verschiedene Länder und Kulturen verstreut waren und in der Diaspora (griech. = Zerstreuung) leben mussten. Im Mittelalter folgten blutige Pogrome (russ. = Verwüstung, Zerstörung) beispielsweise während der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert und zur Zeit der Pest im 14. Jahrhundert, für die man in einem Sündenbock-Mechanismus vielerorts Juden verantwortlich machte. Auch wirtschaftliche Rivalität prägte antijüdische Einstellungen, im 15. und 16. Jahrhundert wurden die Juden aus vielen deutschen Städten vertrieben.
Erst nach der Gründung des Kaiserreichs 1871 stiegen Juden in Deutschland zu gleichberechtigten Bürgern auf - zumindest rechtlich gesehen. Viele Juden strebten nach sozialer und kultureller Integration. Dennoch wurden "die Juden" in Zeiten von fortschreitender Industrialisierung und politischem Strukturwandel erneut zum Negativsymbol. Viele Menschen waren von der Moderne mit ihren technischen und politischen Veränderungen überfordert - vor allem von neuen gesellschaftspolitischen Strömungen, wie Kapitalismus und Sozialismus. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden die Juden instrumentalisiert als Inbegriff und Verursacher solcher moderner "Übel".
Und die Judenfeindschaft erhielt eine neue ideologische Ausrichtung: Mit dem Aufkommen von Rassismus und Sozialdarwinismus wandelte sich der Antijudaismus im späten 19. Jahrhundert zum scheinbar "wissenschaftlich" legitimierten Antisemitismus. Früher konnten Juden der Verfolgung entkommen, indem sie sich christlich taufen ließen. Doch nun galt Jüdisch-Sein als angeboren. Der rassistisch motivierte Antisemitismus mündete in die staatlich verordnete systematische Ermordung der europäischen Juden während des "Dritten Reiches".
Antisemitismus als stetige Versuchung
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der rassistische Antisemitismus mit dem Stigma des Massenmordes behaftet und in den Hintergrund getreten. Ein Ende der Judenfeindschaft bedeutete das jedoch nicht. Mit der Gründung des Staates Israel 1948 hatten die Juden zum ersten Mal seit der Antike wieder einen eigenen Staat, der von Vordenkern wie Theodor Herzl auch theoretisch begründet und gefordert worden war (Zionismus). Die Verwirklichung dieses Staates, der für Juden aus aller Welt eine Heimstatt und ein Zufluchtsort nach den Verfolgungen sein sollte, geschah allerdings zu Lasten der dort bislang lebenden Bevölkerung. Damit gehen bis heute anhaltende gewalttätige Konflikte einher (Nahostkonflikt) - ein neuer Nährboden auch für alte Judenfeindschaft: Der sogenannte Antizionismus spricht Israel das Existenzrecht als Staat ab.
Geschickt nutzen Antisemiten den Nahostkonflikt, um "Israelkritik" mit alten Stereotypen zu koppeln. Dazu gehören Pauschalisierungen wie: "die Juden verhalten sich gegenüber den Palästinensern wie…" - dabei wird nicht unterschieden zwischen jüdischen Menschen insgesamt, die überall auf der Welt leben und unterschiedliche Meinungen haben, und konkreter israelischer Regierungspolitik. Zudem wird gerne auf perfide Weise das Schicksal der europäischen Juden als Opfer der Shoa (Holocaust) instrumentalisiert, um dann "die Juden" selbst von der Opfer- in die Täterrolle zu drängen, wenn es heißt: "'die Juden' begehen Völkermord an den Palästinensern". Die Politik Israels wird mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt. Zusätzlich gelten "Juden" immer noch bei Verschwörungstheoretikern als Kollektiv, das sich heimlich zusammengetan hat, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Wieder werden "die Juden" als Sündenböcke benutzt.
Die üblichen Verdächtigen - Rechtsradikaler Antisemitismus
Judenhass bei Rechtsextremen, vor allem bei männlichen Jugendlichen und Erwachsenen mit niedrigem Bildungsniveau, sitzt tief. Wie die Historikerin Juliane Wetzel vom Institut für Antisemitismusforschung der TU Berlin berichtet, verübten Täter aus dem rechten Spektrum im Zeitraum 2005 bis 2010 mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten.
Um in der Mehrheitsgesellschaft zu punkten, werden von Neonazi-Propagandisten heute gern soziale Aspekte beleuchtet (Beispiel "Kein Geld für Synagogenbau, sondern für Hartz-IV-Empfänger"). Und immer wenn die Lage im Nahen Osten eskaliert, werden bevorzugt "die Juden" diffamiert.
Kampf gegen Juden und das kapitalistische Modell - Antisemitismus der Linken
Linksradikale bekämpfen Neonazis, doch auch in diesen Kreisen finden sich Antisemiten. Sie verurteilen vor allem Israels Politik als rassistisch, imperialistisch und aggressiv. Diese Kritik ist vor allem seit dem Sechstagekrieg 1967 zu hören. Damals besetzte Israel u.a. den Gazastreifen und das Westjordanland. Seither kontrolliert Israel dicht besiedelte Gebiete, die als Territorium eines künftigen Palästinenserstaates gelten. Kommt es hier zu Spannungen oder Kämpfen, bedienen sich Linke oft alter antisemitischer Muster.
Beispiel Gazakrieg im Sommer 2014: Auf Demonstrationen in deutschen Großstädten war häufig der Ruf "Kindermörder Israel" zu hören. Hier wurde das Vorgehen israelischer Militärs, die im Kampf gegen Aktivisten der islamistischen Organisation Hamas den Tod von Kindern in Kauf nahmen, mit uralten antijüdischen Ressentiments verknüpft. Im Mittelalter zeitigte der Kindermordvorwurf geradezu psychotische Auswirkungen. Als beispielsweise 1144 im englischen Norwich die Leiche eines christlichen Knaben namens William entdeckt wurde, machte die Behauptung, Juden hätten ihn umgebracht, schnell die Runde. Bald wurden in ganz Europa Juden für den Tod von Kindern verantwortlich gemacht. Die Anschuldigungen gipfelten in dem Vorwurf, Juden würden ihre Matze, das ungesäuerte Brot, mit dem Blut von Christenkindern herstellen.
Ein weiterer Grund für linke Israelkritik ist, dass der kleine Staat für vieles steht, was Linksradikale ablehnen, beispielsweise Marktwirtschaft, Liberalismus westlicher Prägung und die Bindung an die USA. Hinzu kommt, dass palästinensische Widerständler von manchen Linken noch immer in der Tradition der Palestine Liberation Organization (PLO) gesehen werden, die in den 1970er Jahren der deutschen Rote Armee Fraktion (RAF) ideologisch nahe stand und vom Befreiungskampf träumte, wie ihn Mao Tse-tung, Fidel Castro und Che Guevara vorexerziert hatten. Dass in Palästinensergebieten wie dem Gazastreifen heute die Organisation Hamas den Ton angibt, wird übersehen. Unbestreitbar ist jedenfalls: In Intellektuellenkreisen findet der linke Antisemitismus durchaus Gehör - man ist Antisemit, fühlt sich aber trotzdem ganz besonders kritisch.
Antisemitismus der Migranten
Studien belegen weit verbreitete antisemitische Vorurteile in muslimischen Communities. Es handelt sich dabei um Menschen, die in der Mehrheitsgesellschaft oft selbst Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, und gleichzeitig ihre Judenverachtung pflegen. Judenhetze in arabischen Medien, empfangen via Internet oder Satellitenfernsehen, verfestigt gerade bei jungen Muslimen das nicht selten schon innerhalb der Familie vermittelte Feindbild. Der migrantische Antisemitismus, unterfüttert mit antiwestlichen Ressentiments, nährt sich aus dem Nahostkonflikt - man ergreift Partei für die Palästinenser.
In Wohngegenden mit starker Präsenz von Muslimen droht die Entstehung von Parallelwelten nach dem Muster: Wir Muslime bilden die überlegene Kultur und müssen uns von den schädlichen Einflüssen "der anderen" rein halten - eine Vorstellung, die gern von Islamisten verbreitet wird. Dabei fruchten auch Reden von Hasspredigern und Verschwörungstheoretikern über "die Juden". Zwischen Juden und Israelis unterscheiden Islamisten ebenso wenig wie Rechts- und manche Linksradikale.