Feministische Klassiker im Zündfunk Christa Wolfs "Kassandra" ist eine Seelenverwandte für alle, die es sich gedanklich nicht zu bequem machen wollen
In Christa Wolfs Erzählung erfahren wir die Geschichte des Trojanischen Krieges aus der Sicht von Kassandra. Ein höchst komplexer Text für jede/n, der/die wirklich den Anspruch hat, ein eigenständig denkender Mensch zu sein.
Es ist ziemlich genau 40 Jahre her, im März 1980, da verpasst die DDR-Schriftstellerin Christa Wolf ihren Flug nach Athen und beginnt erst daheim und dann in der Wartehalle “Die Orestie” von Aischylos zu lesen. Und Christa Wolf ist bei diesem fast 2.500 Jahre altem Drama sofort von der Figur der Kassandra fasziniert. Kassandra, das ist die trojanische Prinzessin die die Sehergabe besitzt, der aber niemand glaubt. Die wird, nachdem der Krieg um Troja vorbei ist, zur Kriegsbeute von Agamemnon. Und lebt dann aber auch nicht mehr lange, weil sie von dessen Frau Klytaimnestra ermordet wird.
Für Christa Wolf wird die Griechenland-Reise zu einer Recherchereise - an dessen Ende die Erzählung “Kassandra” steht. Und in dieser Erzählung erfahren wir die Geschichte des Trojanischen Krieges aus der Sicht von Kassandra. Das allein ist schon mal super, denn selbst wenn man sich die modernen Versionen des Stoffes, zum Beispiel Filme wie “Troja” mit Brad Pitt als Achilles anschaut, geht es immer um kraftstrotzende Männer, die sich gegenseitig abmetzeln und schöne Frauen, die als Kriegsbeute hin und her geschoben werden.
“Mit meiner Stimme sprechen. Mehr, andres hab ich nicht gewollt.”
Die Erzählung von Christa Wolf aber, ist sehr viel komplexer als eine weibliche Version der Sagen des Klassischen Altertums. Vor allem ist sie hoch literarisch erzählt, das macht es erstmal gar nicht so leicht in den Text reinzukommen - aber man gewöhnt sich dran.“Mit meiner Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres hab ich nicht gewollt,” erklärt diese Kassandra. Es ist ein 150-Seitiger Monolog in dem sie vor sich selbst Rechenschaft ablegt: wie sie als Lieblingstochter des Königs heranwächst, wie sie durch ihre Gabe als Seherin zur Außenseiterin wird - die doch gleichzeitig noch zur Königsfamilie gehört. Wie Troja immer mehr in den Konflikt mit den Griechen verstrickt wird, wie sich die Gesellschaft im sogenannten Vorkrieg verändert, wie ein Geheimdienst entsteht, dem Kassandra sich auch nicht mutig in den Weg stellt - obwohl sie weiß, dass am Ende die Vernichtung Trojas steht.
Als das Buch 1982 erscheint gibt es auch damals schon eine Vielzahl von möglichen Lesarten: westdeutsche Feministinnen haben den Fokus eher auf der Geschichte einer Frau, die in einer patriarchalen Gesellschaft versucht, ihre eigene Stimme zu finden. Für ostdeutsche Leser*innen waren aber mit Sicherheit die Parallelen zur DDR-Gesellschaft unübersehbar: der Machtkampf zwischen König - also Staatsapparat, der Königin - der Partei, dem Geheimdienst - also Stasi. Christa Wolf zeigt, wie einzelne den Konflikt mit den Griechen anheizen, weil es ihre eigene Position am Hof stärkt. Und wer als erstes den Preis für das Aufrüsten zahlt: nämlich das Volk, vor allem die Frauen in Troja.
Den Anspruch haben, ein eigenständig denkender Mensch zu sein
Auch heute kann man nicht anders, als Christa Wolfs eigene Rolle in der DDR aus dieser Erzählung rauszulesen: wie sie sich von einer linientreuen DDR-Autorin zu kritischen Schriftstellerin entwickelt hat - die mit sich selbst hart ins Gericht geht, weil ihre Verstrickungen mit dem System nicht zu leugnen sind. Superspannend ist auch Christa Wolfs Buch zum Buch - “Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra” in dem sie von dieser Griechenland-Reise erzählt. Davon wie sie und zwei amerikanische Freundinnen zum Beispiel auf Kreta nach Spuren von einer matriarchalen Kultur suchen - oder zumindest nach Hinweisen, dass bei den Minoern Frauen auch eine wichtige gesellschaftliche Rolle gespielt haben.
In der Erzählung zieht sich Kassandra für eine Weile aus Troja zurück und lebt in einer Frauengemeinschaft in den Bergen, wo eine weibliche Gottheit verehrt wird. Dieser Aspekt war für den Ökofeminismus der 80er Jahre auch ziemlich wichtig. Allerdings kann der Rückzug in eine alternative Gemeinschaft auch in der Erzählung die Katastrophe nicht aufhalten - weshalb in “Kassandra” auch die Frage drin steckt, ob sich Gegenkulturen aus der Stadt/ also der herkömmlichen Politik zurückziehen können. In der Erzählung von Christa Wolf stecken also unglaublich viele Aspekte drin. Und die Selbstbefragung von Wolfs Kassandra hat nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Jede/r der wirklich den Anspruch hat, ein eigenständig denkender Mensch zu sein - und es sich gedanklich nicht bequem zu machen - die wird in Kassandra eine Seelenverwandte finden. Sei es als politischer Mensch oder als Künstlerin.
Zündfunk-Kollegin Laura Freisberg moderiert seit sechs Jahren einen feministischen Leseclub in München. Weil gerade jetzt Zeit zu lesen ist, hat sie für uns eine total subjektive Best-Of-Auswahl getroffen und stellt ihre feministischen Lieblingsklassiker vor.