Das Corona-Tagebuch Die Einschläge kommen näher
Jeder kennt mittlerweile einen oder eine, die positiv auf Corona getestet wurde. Oder kennt jemanden, der jemanden kennt. Was macht das mit uns? Schriftsteller und Theatermacher Björn Bicker teilt mit uns seine "Haftnotizen".
Heute habe ich mit einem guten Freund telefoniert. Er arbeitet mit schwerstkranken Menschen. Weil er auch einen kennt, der einen kennt, der das Virus hat, hat ihn der Amtsarzt aus dem Verkehr gezogen und ihn zu einem Test verdonnert. Bis das Ergebnis da ist, sitzt er nun in Quarantäne. Er, der mir letzte Woche noch verraten hat, wie glücklich er sei, in solchen Zeiten so einen sinnvollen Beruf zu haben. Helfen zu dürfen. Jetzt ist er erst mal zum Nichtstun verdonnert. Er sieht das ein. Er ist ja vernünftig. Und kennt sich aus. Aber was nutzt es ihm. Nun vertraut er darauf, dass er a) gesund bleibt und b) bald wieder arbeiten darf. Beides ist nicht sicher.
Homeschooling: Die Religionslehrerin meiner Kinder hat heute per Email ein Gebet geschickt.
Wir wohnen in einem Wohnblock aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Jeden Abend um 19 Uhr versammeln sich die Mieter*innen auf den Balkonen im Innenhof und applaudieren. Und dann singt eine Sängerin mit einer ordentlichen Opernstimme die Ode an die Freude und anschließend spielt einer Akkordeon und singt mit Inbrunst Azzuro. Ein paar schunkeln auf den Balkonen und singen mit. Und dann applaudieren die Nachbarn wieder. Im innenhof ist eine Wiese mit einem Spielplatz, den ein rot-weißes Flatterband einzäunt. Der Applaus vervielfacht sich in einem kunstvollen Spiel aus sich jagenden Echos, die hin und her und kreuz und quer durch den Hof hüpfen. Eine Geisterbeschwörung. Ich fache das Spiel mit meinen Händen immer wieder von neuem an. Später gehe ich in den Keller und ich denke daran, dass dort viele Menschen die Bombennächte des zweiten Weltkriegs verbracht haben. Seit der Isolation übt mein Sohn bei schlechtem Wetter dort Skateboardtricks.
"Man muss nur aufschreiben, was passiert. Die Erinnerung wird daraus etwas machen. "
Eine Freundin meiner Tochter hat mit ihrem Vater einen bunten Regenbogen auf den Gehsteig vor unserer Haustür gemalt. Als sie fertig waren, haben sie uns angerufen: Schaut mal aus dem Fenster auf den Bürgersteig. Am Abend hat es geregnet. Ich sitze in meinem Homeoffice, das auch schon vor Corona ein Homeoffice war und schreibe den Satz: Hau ab Corona! auf ein pinkfarbenes Post-it! Ich betrachte die Pappe auf der die Post-it!s in verschiedenen Größen angebracht sind. Und dann lese ich, was auf der Pappe gedruckt steht: HAFTNOTIZEN. Das steht da wirklich: HAFTNOTIZEN. Die deutsche Übersetzung von Post-it!, ist HAFTNOTIZEN? Notizen aus der Haft? Nein, Notizen, die haften. HAFTNOTIZEN. Hau ab Corona! Meine erste Haftnotiz für heute. Ich fange an, weitere Haftnotizen zu beschriften: Wann sind wir wieder frei?
Woher nehme ich das ganze Vertrauen?
Ich klebe überall kleine Haftnotizen hin. Und schreibe Wörter drauf. Vertrauen...Vertrauen. Immer wieder Vertrauen: In die Politiker. In meinen Körper, mein Immunsystem, meine Mitmenschen, die Liebe, den Lauf der Dinge. Ich gehe in die Küche und schalte das Radio ein. Sie berichten, dass der Ministerpräsident eine Ethikkommission berufen hat, um das Handeln der Regierung während der Krise zu überprüfen. Und die Politiker*innen zu beraten. Wie lange und wie weit ist es gerechtfertigt, die Freiheit der Bürger*innen wegen dieser Pandemie einzuschränken? Mit dieser Frage sollen sie sich beschäftigen. Den Vorsitz dieser Kommission haben sie einer ehemaligen Bischöfin übertragen. Die Journalistin fragt sie, was denn ihr Kriterium sei, der Glaube oder das Grundgesetz. Die Bischöfin ist irritiert: Das Grundgesetz natürlich, sagt sie, ihr persönlicher Glaube spiele hier keine große Rolle, das sei etwas anderes. Es müsse ja für alle passen. Krise und Diversität, denke ich, das wäre auch mal ein Thema. Ich nehme eine von meinen pinkfarbenen Haftnotizen und hefte sie an das Radio. Ich schreibe zum wiederholten mal das Wort Vertrauen darauf.