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Das Corona-Tagebuch Ich komm mit der Corona-Politik nicht mehr mit – darum kapituliere ich

Die Zahlen steigen, aber es wird gelockert und geöffnet. So schön das für uns alle im Einzelfall ist, Caroline von Lowtzow kommt mit diesen Entscheidungen, mit dieser Entwicklung nicht mehr mit.

Von: Caroline von Lowtzow

Stand: 10.03.2021 | Archiv

Caroline von Lowtzow | Bild: BR

Ich komm gerade nicht mehr mit. Genauer – seit dem Bund-Länder-Beschluss vom 3. März. Meine 11-jährige Tochter war die erste, die mich informierte: „Stimmt es, dass wir ab dem 15. März wieder in die Schule sollen?“ Was sich in der Schülerschaft rasend schnell verbreitete – und das nur kurz am Rande: nein, die Nachricht löste keine Begeisterung aus, sondern vor allem Angst vor dem wiedereinsetzenden Notendruck und dem täglichen Abfrageregime – also was die Schülerinnen und Schüler schon lange wussten, konnte mein Hirn erst einmal nicht glauben. Das muss ne Fehlinformation sein – behauptete ich. Doch eine Suchmaschinen-Suche später war mir klar: Keine Fakenews, sondern Wirklichkeit. Wenn auch eine sehr komplexe, weil abhängig von der jeweiligen Inzidenz vor Ort. Und nicht nur die Schulen sollten zum Präsenzunterricht zurückkehren, sondern plötzlich sollten auch Zoos, Museen und der Einzelhandel wieder öffnen dürfen, Sport wieder möglich sein und sogar für Kinos, Theater und Restaurants wurden Öffnungstermine genannt. Die Theater meiner Stadt kündigten in Pressemitteilungen auch sofort ihre ersten offline-Aufführungen an – für den 22. März.

 Habe ich was verpasst?

Häh? Bin ich zwischen homeoffice- und homeschooling-Stress in eine Art Zeitloch gefallen und habe ein paar entscheidende Wochen verpasst? Wochen, in denen plötzlich sehr viele Menschen geimpft wurden. In denen eine klare Strategie erarbeitet wurde, wie man mit Hilfe von Selbst- und Schnelltests nach und nach die verschiedenen Bereiche unseres Lebens wieder öffnen kann. Eine Strategie, die darauf basiert, dass es a) genügend Schnell- und Selbsttests gibt und b) klärt, was man alles wie lange mit einem negativen Test machen darf und c) was passiert, wenn ein Test positiv ist. In der geregelt ist, wie in Schulen, Kitas und Betrieben regelmäßig alle getestet werden können.   

War ich so im Murmeltiertags-Gefühl gefangen, dass ich das alles verpasst habe? Als ich am Tag nach dem Bund-Länder-Treffen Klaus Kleber im heute-journal sah, war ich dann doch erleichtert, dass nicht nur ich mir erstaunt die Augen reibe.

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MdBdesGrauens - Donnerstag, 04. März 2021, 22:00 Uhr
So eine deutliche Ansage zu Beginn des @heutejournal hab ich auch noch nicht gesehen, @ClausKleber on point. Glaube die Politik ist sich wirklich nicht bewusst, was sie in den letzten Monaten und besonders gestern kaputt gemacht hat. https://t.co/bFxiFAB4gh

So eine deutliche Ansage zu Beginn des @heutejournal hab ich auch noch nicht gesehen, @ClausKleber on point. Glaube die Politik ist sich wirklich nicht bewusst, was sie in den letzten Monaten und besonders gestern kaputt gemacht hat. https://t.co/bFxiFAB4gh | Bild: MdBdesGrauens (via Twitter)

Versteht mich nicht falsch: ich freue mich, dass meine Kinder endlich wieder zum Fußballtraining gehen können, dass Buchläden, Geschäfte, Baumärkte, Museen, vielleicht auch bald Kneipen und Kinos wieder öffnen dürfen. Ich bin dieses Leben mit der ständigen Angst im Kopf und dieser ewigen Abwägung, ist das verantwortlich, kann ich das wagen, auch total leid. Ich hab auch kein Bock mehr. So wie viele die Mehrheit der Bürger*innen keinen Bock mehr haben. Das verstehe ich.  

Ich verstehe aber auch, dass die Lage leider noch immer nicht so viel besser ist als vor wenigen Wochen. Sicher, viele alte Menschen in Alten- und Pflegeheimen sind jetzt geimpft und es sterben weniger an Corona. Das ist wirklich eine gute Nachricht. Aber es gibt auch Menschen, die nicht sterben, und trotzdem mit übelsten Langzeitfolgen einer Corona-Infektion leben müssen: sie können zum Teil nicht mehr riechen, sich nicht konzentrieren, nicht mehr arbeiten, manche haben in der Schwangerschaft ein Baby durch die Infektion verloren. Viele Verläufe sind zum Glück harmlos, aber viele eben auch nicht.  

Bei der Frage nach Selbsttests in der Drogerie? Achselzucken

Die Infektionszahlen steigen wieder. Wir alle wissen, es gibt neue Varianten, die ansteckender sind. Meine Eltern sind 79 und 77 Jahre alt – ein Impftermin noch lange nicht in Sicht. Ganz zu schwiegen davon, wann ich selbst einen Termin bekomme. Als ich zum angekündigten Verkaufsstart bei Rossmann und dm nach den Selbsttests frage, bekomme ich nur ein Achselzucken als Antwort. Genauso in der Apotheke. Ein Nachbar erzählt mir, dass die Eltern der Klasse jetzt vereinbart haben, dass sich jede Familie einmal die Woche freiwillig testen lässt, weil es kein Konzept für die Schule gibt. Auch das Fußballtraining meiner Kinder beginnt einfach wieder, ohne Teststrategie. Da hätten sie es auch einfach weiter machen können.  

Katharina Schulze von den bayerischen Grünen hat die Entscheidungen so zusammengefasst:   

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BR24 - Freitag, 05. März 2021, 15:08 Uhr
Katharina Schulze warf Markus #Söder vor, nach den #Corona-#Lockerungen die Verantwortung bei den Bürgern abzuladen. Das sei perfide. Mehr zur Debatte lest Ihr hier: https://t.co/328aeuR5QA https://t.co/dJgdJIG6xh

Katharina Schulze warf Markus #Söder vor, nach den #Corona-#Lockerungen die Verantwortung bei den Bürgern abzuladen. Das sei perfide. Mehr zur Debatte lest Ihr hier: https://t.co/328aeuR5QA https://t.co/dJgdJIG6xh | Bild: BR24 (via Twitter)

Karl Lauterbach sagte am Sonntag bei Anne Will:

"Wir haben da auch einem Druck nachgegeben, der in der Presse aufgebaut wurde, der in der Öffentlichkeit meiner Meinung nach gar nicht so existiert."

 Karl Lauterbach bei Anne Will

Ich glaube, in diesem Fall hat Karl Lauterbach nicht recht. Der Epidemiologe ist ja für viele während der Corona-Zeit zur Hassfigur geworden, aber mit seiner Einschätzung liegt er oft richtig. Ich glaube, dass der Druck in der Bevölkerung sehr wohl vorliegt, diesen bestätigen ja auch Umfragen. Die meisten Menschen wollen das gelockert wird. Und sicher ist es auch richtig, bestimmte Auflagen zu lockern, weil es zum Beispiel nicht so gefährlich ist, auch mehrere Leute draußen zu treffen, sagt sogar Karl Lauterbach, wir aber immer mehr ahnen, wie wichtig es ist, unsere Lieben zu sehen. Vielleicht fehlt auch schlicht das Geld, um weiter finanzielle Unterstützung zu leisten – die bei vielen ja auch nur sehr schleppend ankommt. Auch das könnte ich nachvollziehen.   

Aber dieses so tun, als ob sich was geändert hätte, das empfinde ich als fatal. Wir haben doch die Notbremse eingebaut – heißt es jetzt als Rechtfertigung für die Öffnungen. Wenn die Zahlen über 100 steigen, machen wir wieder zu. Diese Grenze gab es schon mal letzten Herbst bei den Schulen. Wenn die Zahlen über 50 sind, stellen wir auf Wechselunterricht um, bei über 100 auf Distanz. Vor Weihnachten waren wir bei fast 300 in München und die Schulen hatten immer noch auf.  

Das Land Brandenburg hat schon jetzt beschlossen, die Grenze von 100 auf 200 hochzusetzen. Was also ist diese Notbremse wert? Karl Lauterbach übrigens ist über die neue Notbremse in Brandenburg entsetzt und fragt sich: Ist das ernst gemeint?

 "Wenn das so ist, mach ich nicht mehr mit"

Glaubwürdigkeit in der Politik ist ein vielbemühter Ausdruck. Viele Menschen lächeln da ohnehin nur noch müde, wenn sie das hören. Ich habe – bei aller Kritik an einzelnen Entscheidungen und an der Impfstrategie und Impfstoffbeschaffung – in den letzten Monaten das Verhalten der Politik im Großen und Ganzen als glaubwürdig empfunden. Ich konnte vieles mitgehen. Aber jetzt? Jetzt komm ich einfach nicht mehr mit. Oder um es mit dem berühmten Karlsson vom Dach zu sagen: „Wenn das so ist, dann mach ich nicht mehr mit.“  

Und ja, ich weiß, eine Strategie, ist auch das nicht. Das ist eine Kapitulation.   


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