Das Corona-Tagebuch Social Distancing – natürlich fällt auch mir das schwer
Wie trifft uns der Corona-Virus in unserem Alltag? Zündfunk-Musikchef Michi Bartle teilt seine Gedanken zu den letzten Tagen - und spricht ganz offen über die Angst um seinen Vater.
Das Virus rückt näher, knapp 200 Fälle alleine hier in München-Stadt. Jetzt ist es soweit, jeder kennt einen, der einen kennt, der Verdachtsfall ist, auf seinen/ihren Test wartet oder bereits infiziert ist. Bayern sperrt jetzt weitgehend ab.
Gestern noch hat uns das im Alltag wenig beeindruckt – der Westpark in München war bei herrlichen Wetter so voll wie der Central Park im Frühling, der Geruch von Grillfleisch zieht über den Rasen, Freunde melden: der Biergarten am Chinesischen Turm – welch Ironie – sei knackevoll. Kein Abstand, kein Social Distancing, nirgends. Ja, wir sind noch ein paar Tage hinter Italien, aber was das bedeutet, scheint die wenigsten zu interessieren. Sind die Sorglosen die Gleichen, die sich um Klopapier und Konservendosen prügeln?
Grüße an die "Mir wird schon nix passieren"-Testosteronis
„There is no glory in prevention“ habe ich irgendwo aufgeschnappt. Und doch, in der Vorsicht, in der Rücksicht, in der Solidarität mit den Schwächeren liegt ein ganz großer Heiligenschein. Das müssen wir all den Mansplainern, den „Mir wird schon nix passieren“ - Testosteronis einbläuen.
Aber auch für die, die es noch nicht kapieren, brauchen wir Nachsicht – vielleicht haben sie einfach nicht die Bildungs- und Informationsvorteile, die uns durch Data-Seiten surfen lassen. Diese Krankheit darf keine sein, die die Unter-Informierten, die Schwachen und die Kranken besonders hart trifft.
Die Sorge um den Vater mit Vorerkrankung
Ich bin in Sorge, in großer Sorge um meinen Vater, 75 Jahre alt, mit einer tödlichen Vorerkrankung, die er gegen jede medizinische Prognose bisher schon fünf Jahre überlebt hat, "Survivor" nenne ich ihn liebevoll und voller Stolz. Er darf jetzt nicht an diesem verdammten Virus erkranken, nachdem er so tapfer den Krebs bekämpft hat. Täglich telefoniere ich mit meinen Eltern, seitdem haben sie alle Kontakte auf ein absolutes Minimum reduziert, ja, Papa, bleibt jetzt bitte in deinem schönen Garten. Wir recherchieren gerade Lieferservices in Würzburg und werden nun auch die Nachbarn bitten, für die beiden einzukaufen. Trotzdem plagt auch meine Eltern die Sorge: Wie lange muss ich auf meine geliebten Enkel verzichten? Gibt es in diesem Roulette überhaupt vernünftige Abwägungen?
Mein anderer Problemfall ist nicht ganz so groß, dafür 18.500 Kilometer und ein paar Zeitzonen weit weg. Meine Tochter ist nach ihrem Bachelor auf Solo-Weltreise und in Neuseeland gestrandet. Weiter kommt sie nicht mehr. Einreiseverbote in fast allen Ländern. Nervosität auch da, obwohl Neuseeland zum Zeitpunkt dieses Tagebuchs gerade mal acht Erkrankungen meldet. Sicherer und bei schönerer Natur kann man diese Krise im Moment nicht überstehen.
Trotzdem hektische Nervosität unter den jungen Travellern. So haben sie sich dieses vielleicht größte Abenteuer ihres bisherigen Lebens nicht vorgestellt. Statt die nächste Unterkunft, die nächste Wanderung zu planen, nun hektische Telefonate und WhatsApps: Welche Fluggesellschaften stellen gerade den Betrieb ein? Muss ich bei einem Zwischenstopp in Quarantäne? Komm ich in den nächsten Tagen und Wochen überhaupt weg aus diesem Fleckchen Paradies? Should I stay or should I go? Was für Tipps kann ich ihr als Vater geben, die nicht morgen schon wieder hinfällig sind?
Faire Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor sind überfällig
Umso mehr und ununterbrochen hänge ich im Netz: Der Podcast von Christian Drosten ist seit einer Woche mein täglicher Begleiter. Zusätzlich update ich mich mit Spiegel, Süddeutsche, Zeit und BR24. Videos gehen – pardon – „viral“, wie die Menschen in Spanien und Italien ihr Krankenhauspersonal mit Gesängen und Klatschen hochleben lassen. Sensationell wie Ärzt*Innen und Krankenpfleger*Innen an vorderster Front arbeiten und ihr Leben für uns riskieren. Hoffentlich nimmt nach dieser Krise die Diskussion wieder Fahrt auf, wie wir endlich faire Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor schaffen können.
In meiner Timeline werden lange datenjournalistische Stücke von Wissenschaftlern geteilt. Artikel, die belegen wollen, was genau die Südkoreaner, die Taiwanesen, die Administrationen in Hongkong und in Singapur richtig gemacht haben. Testen, Trennen, Distanz und ein nahezu vollständiges Runterfahren sind im Moment die einzigen Lösungsmöglichkeiten. Wozu mir einfällt, dass die Johnson-Administration gestern noch den Bath-Half Marathon über die Bühne hat gehen lassen. Tausende Läufer, die nebeneinander am Sonntag auf die Langstrecke gingen. Was für ein verantwortungsloser Irrsinn! 250 britische Wissenschaftler haben in einem eindringlichen Appell Boris Johnson gebeten, seine achselzuckende Politik zu überdenken. Es ist nicht die Stunde der Populisten, aber auch hier verbietet sich Schadenfreude. Denn diese menschenverachtende Haltung ist und bleibt tödlich.
Social Distancing - auch bei Trauerfeiern
Social Distancing – natürlich fällt auch mir das schwer, besonders heute. Denn heute war die Trauerfeier für Bernd Hartwich – Münchens Music Machine, letzte Woche ist er mit nur 53 Jahren an einer Krebserkrankung gestorben. Ein großartiger Typ! Rest In Peace, lieber Bernd, ich konnte nicht kommen, winke dir aber hier von meiner desinfizierten Tastatur traurig hinterher.
Michael Bartle ist Redakteur und Leiter der Musikredaktion im Zündfunk.