Meinung Der Musikjournalismus kann sich den Pitchfork-Ausverkauf nicht leisten
Niemand schuf eine bessere Balance zwischen Indie und Mainstream: Pitchfork lieferte über 30 Jahre Futter für Musik-Liebhabende und Periphere. Jetzt hat der Verlag Condé Nast die komplette Editor-Riege und die Hälfte der Belegschaft entlassen.
Pitchfork wie wir es kannten, ist wohl Geschichte. Diese Nachricht hat mir mein Herz gebrochen! Ausgerechnet Pitchfork, die Plattform, die die Gratwanderung zwischen musikalischem Kommerz und Nische so gut meisterte wie niemand sonst. Hier eine Rezension über das neue Madonna-Album, dort das Porträt über eine völlig unbekannte Indie-Gruppe mit 13 Aufrufen auf Youtube und nebenan ein groß angelegtes Think-Piece über Musik und KI. Pitchfork ist meinungsstark und preisgekrönt. Seit fast 30 Jahren repräsentierte sie ein unumstößliches Denkmal in einer Welt, in der die Relevanz des Musikjournalismus bröckelt und die Plattformen dafür aussterben, wie Vogelarten im Anthropozän.
Pitchfork war wortwörtlich die Heugabel im Heu. Eine Spielwiese voller ausufernder, passionierter Texte über Alben, Künstler:innen und Themen mit Impact aber auch brandaktuellen Pop-Perspektiven und Denkanstößen. Ohne Paywall, ohne Abos, ohne Login. Viele Musik-Journalist:innen weltweit - auch ich - öffneten am Morgen im Büro als erste Amtshandlung die Pitchfork-Website, um nachzulesen, was so über Nacht passiert war in der Popwelt. Auch am vergangenen Mittwoch. Da sah erstmal alles wie immer aus. Aber dem war nicht so.
Was war passiert?
Am Mittwochmorgen teilt Max Tani, Journalist bei der Medien-Plattform Semafour eine geleakte interne Mail von Anna Wintour auf der Plattform X (früher Twitter). Wintour ist Editor in Chief bei der Vogue und Global Content Chefin bei Condé Nast, dem Kopf-Unternehmen, das Pitchfork 2015 aufgekauft hat. Schon damals ein Move, der sehr kritisch und besorgt von der Musikwelt beäugt wurde. In der Mail an die ganze Condé Nast-Belegschaft schreibt Wintour folgendes:
"Ab heute bringen wir das Pitchfork-Team in die GQ-Strukturen. (...) Das ist der beste Weg für unsere Marke, die Musikberichterstattung in unserem Unternehmen weiter gedeihen zu lassen."
Anna Wintour, Global Content Chefin Condé Nast
Aus dem Corporate-Sprech übersetzt dürfte das heißen: Die kompletten redaktionellen Entscheidungen sollen in die Strukturen der GQ eingegliedert werden. Eine Art Fusion. Uff. Der Wal schluckt den Regenbogenfisch. Goliath steckt sich David in die Brusttasche. Unter welchen Umständen genau diese Entscheidung kam, das ist auch nach einigen Tagen immer noch nebulös. Aber sicher ist: Die Pitchfork wird in Zukunft nicht mehr dieselbe sein. Eine Realität, die sich bei Condé-Nast-Vizepräsidentin Melissa Consorte irgendwie anders anhört, noch am Mittwoch gibt sie ein Statement ab:
"Pitchfork is not going away as a brand. This is not a terrible thing for us — GQ and P4K were getting in each other’s lanes and this makes it easier for us to use them in a complementary fashion. I think this will only help P4K feel bigger and more recognizable in the long term. Pitchfork is not being shut down or rebranded as GQ — from a client and user perspective, everything will look the same."
Melissa Consorte, Vize-Präsidentin von Condé Nast
Entlassungen links und rechts
P4K steht hier für die offizielle Abkürzung für Pitchfork. Seit dem Schicksals-Mittwoch gehen auf Pitchfork jeden Tag viel weniger Texte online. Gemischte Gefühle bekomme ich da. Und dann das: Viele Autor:innen und Redakteur:innen melden sich auf X (ehemals Twitter) - mit Berichten über ihre Entlassungen:
"it’s official: I was laid off from Pitchfork today, along with what appears to be half the staff. While on parental leave. if you’ve got work, i’m extremely available: reviews, news, and features, but also bios, curation, copywriting, and consulting. mir83nj at gmail dot com."
Matthew Imanuel Ruiz
Na super.
"I've referred to my job at pitchfork as being on a ferris wheel at closing time, just waiting for them to yank me down. after nearly 8 yrs, mass layoffs got me. glad we could spend that time trying to make it a less dude-ish place just for GQ to end up at the helm."
Jillian Mapes
Die Chefredakteurin wurde auch entlassen
Dann geht es ab. Die Nachrichten verbreiten sich. Viele User posten ihre Reaktionen. Von Freude, über Wut bis Traurigkeit sind fast alle Emotionen dabei. Der User @tillyfoulkes etwa schreibt: "Das Coole an Pitchfork war: Selbst wenn du jedes einzelne Wort von denen abgelehnt hast, konntest du immer noch auf die Website gehen und irgendeine komische kleine Band finden, die cooles Zeug macht. Aus einem unbekannten Kaff in einem fremden Land, die du sonst nie entdeckt hättest." Oder @ChemistryMiley: "Nach Jahren an Flops, doofen Rezensionen und Psycho Angestellten, wird Pitchfork endlich aufhören zu existieren. Wir haben gewonnen!"
Sogar die Gewerkschaft meldet sich zu Wort. Ein paar Tage nach dem Leak lässt sich feststellen, dass wohl die halbe Belegschaft der Musik-Plattform Pitchfork gehen musste. Mindestens 12 Personen, zehn davon aus der Chef-Etage, darunter auch die bisherige Chef-Redakteurin Puja Patel. Zwei Tage nach den großen News postete sie ein rührendes Statement, in dem sie sich für die Zeit bei Pitchfork bedankt.
Puja Patel war seit 2020 Chefredakteurin. Davor hatte elf Jahre lang Mark Richardson den Posten inne. Gerade in den Nullerjahren, in denen Pitchfork-Rezensionen die Macht hatten, ganze Karrieren zu starten, von Indierock-Gruppen wie Animal Collective oder Songwriter Sufjan Stevens. Aber Richardson hat in seiner Zeit auch die Tore der Plattform geöffnet. Plötzlich fanden sich auch Rezensionen über HipHop, Pop und RnB bei Pitchfork, Künstler:innen wie Beyonce oder Mariah Carey.
Echt jetzt? Ein Männermagazin?
Trotzdem war es erst Puja Patel, die die Plattform nunmehr komplett loslöste von seinen Anfängen als weiß und männlich geprägtes Musik-Magazin. Ja, die maßgeblich dazu beitrug, den männerdominierten Musikjournalismus im Allgemeinen zu diversifizieren. Petal engagierte zunehmend queere, weibliche und POC-Autor:innen. Um die Pitchfork-Freelancerin Laura Snapes im Guardian zu zitieren:
"Menschen wie Lindsay Zoladz, Jenn Pelly, Carrie Battan, Amanda Petrusich, Sasha Geffen, Jill Mapes, Doreen St Félix, Hazel Cills oder die furchtlose Redaktion von Jessica Hopper, um nur ein paar wenige Namen zu nennen."
Laura Snapes, The Guardian
Unter Puja Patel schrieb die Pitchfork wichtige Geschichten wie die Enthüllungen über übergriffiges Verhalten und Fehltritten gegenüber Frauen von Arcade Fire-Sänger Win Butler oder große Features über trans Künstler:innen und was sie ausmacht. Wichtiger, unabhängiger Journalismus, den die Pop-Kultur verdient hat, den wir als Musik-Liebhabende verdient haben. Und jetzt soll eine Marke mit solch einer Legacy zur GQ? Einem Männermagazin? Das ist doch was faul? Auch aufgrund des Faktes, dass Musik-Magazine wie der Rolling Stone oder die Spin früher weitgehend als “Männermagazine” galten. Es hat so lange gedauert, bis auch dort ein Luftzug durch die Redaktionen wehte und Frauen sowie queere Menschen auf den Plan getreten sind. Und jetzt, wo wir endlich so weit sind, ist der Musikjournalismus im Ausverkauf.
Musik hat es verdient, ernst genommen zu werden
Genug sind schon gefallen, die neben der Pitchfork die Fahne hochgehalten haben: Die Spin? Aufs Minimalste reduziert. Rolling Stone und Billboard? Inhaltlich schon lange nicht mehr die Relevanz, die sie mal hatten. Stereogum? Am Kämpfen, muss sich jetzt fast gänzlich durch Lesende finanzieren. Als kleiner Hoffnungsschimmer: In Deutschland wagt sich DIFFUS aus dem Digitalen raus und veröffentlicht auch ein Printprodukt. Immerhin. Aber: Die Spex? Gone. Die Juice? Gone.
Verdammt, was können und wollen wir uns eigentlich noch leisten? Die Causa Pitchfork markiert einen Einschnitt, eine Absage an den Musikjournalismus.
Noch wissen wir nicht genau, was auf der Seite passieren wird. Aber klar ist: Viele mussten gehen. Und allein damit wurde der ganzen Branche etwas genommen: Schlaue, diverse Köpfe, die mit gebündelter Passion und Seriösität an ihren Job herantraten. Die die Musik so ernst nahmen, wie sie es verdient hat und auf unverkennbare Weise eine perfekte Balance zwischen Pop und Underground schufen. Um es mit den Worten der wundervollen Etta James zu sagen: All I Could Do Was Cry.