Palästinensische Community in Deutschland „Ich habe das nie empfunden, dass Israelis und Palästinenser*innen weit auseinanderliegend sind“
Seit dem Überfall der Hamas auf Israel konzentriert sich die Berichterstattung zu palästinenischem Leben in Deutschland hauptsächlich auf das Thema Antisemitismus. Was bedeutet das für die Palästinenserinnen und Palästinenser, die hier leben und nun alle unter Generalverdacht stehen?
Irgendwo in Joanna Osmans Kleiderschrank liegt noch ein Palästinensertuch. Die Schriftstellerin und Mitbegründerin der Friedensbewegung „The Peace Factory“ erklärt: „Das war ursprünglich einfach nur Tracht. Und Staub-, Wind- und Sonnenschutz.“ Das Tuch, findet Osman, ist ein gutes Symbol für ihre palästinensische Identität – weil in ihm viele Widersprüche stecken: „Jassir Arafat hat das dann politisiert. Der hat sich das Tuch immer so geknotet, dass der Zipfel aussah wie Israel und die Palästinenser-Gebiete, vom Fluss bis zum Meer. Das ist halt, wie wenn man jetzt die SA oder die SS in Lederhosen gesteckt hätte, anstatt in Braunhemden oder Schwarzhemden, dann hätten wir jetzt ein Problem in Bayern Lederhosen zu tragen.“
Arafat hat das Palästinensertuch politisch aufgeladen
Ihr Palästinensertuch zieht Joana Osman zurzeit nicht mehr an. Es ist politisch zu stark aufgeladen. Und so ähnlich, sagt sie, verhält es sich zurzeit auch mit der palästinensischen Identität. Nur dass man die eben nicht ablegen kann. Sie glaubt, dass Identität das zentrale Thema von Palästinenserinnen und Palästinensern ist, „einfach aus dem Grund, weil das so kompliziert ist in unserem Fall.“
Über ihre palästinensische Lebensgeschichte, die Fluchtgeschichte ihrer Familie hat Joana Osman ein Buch geschrieben, „Wo die Geister tanzen“. Osman fühlt sich zerrissen, erzählt sie. Einerseits ist sie Deutsche, andererseits ist ihr wichtig, auch als Palästinenserin zu leben: „Das ist schon eine eigene Identität, die abseits steht von anderen Identitäten. Aber ohne einen Staat und mit einem Volk, das in der Diaspora steht, ist das sehr schwierig zu leben, glaube ich.“
Deutschland hat eine große palästinensische Community
Mehrere Hunderttausend Palästinenserinnen und Palästinenser leben in Deutschland, die genaue Zahl ist nicht bekannt. Viele mit israelischem, andere mit libanesischem oder jordanischem Pass. Einige sind auch staatenlos, haben gar keinen Pass. Das bedeutet, dass sie oft nicht arbeiten können, ihnen Bildung verwehrt bleibt und das Reisen in andere Länder schwerer ist.
Imad Mustafa drückt es so aus: „Es ist kein Spaß, Palästinenserin und Palästinenser in Deutschland zu sein. Das war es noch nie, und es wird immer unspaßiger, um in diesem Bild zu bleiben.“ Der Soziologe mit palästinensische Wurzeln forscht an der Uni Bamberg zu Rassismus – zuvor hat er sich mit der Geschichte von Palästinensern in Deutschland beschäftigt. Mustafa erklärt, dass es zwei Einwanderungsphasen gab: Kamen in den 1960 Jahren vor allem Arbeitsmigranten, gab es in den 70er Jahren viele Menschen, die zum Studium nach Deutschland kamen.“
Viele Palästinenser*innen leben sakulär
Aufgrund der Einwanderungsgeschichte seien viele Palästinenser*innen in Deutschland säkular geprägt, sagt Imad Mustafa. Das komme im Diskurs über Palästina aber nicht vor: „Wenn man sich die Palästina-Debatte anguckt, dann muss man ganz klar konstatieren, dass eine Schwerpunktsetzung erfolgt, die Palästinenser*innen islamisiert. Es sei nur kurz daran erinnert, dass es ganz viele Christen in Palästina gibt. Das andere ist das Stichwort Antisemitismus. Dass immer wieder die Rede davon ist, dass Palästinenser*innen eben antisemitisch seien.“
Antisemitismus gibt es auch bei anderen Bevölkerungsgruppen
Nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober kam es zu antisemitischen Parolen bei Pro-Palästina-Demos. Einige feierten auf offener Straße die Gräueltaten der Hamas, es gab kaum Solidarität mit Israel. Joana Osman und Imad Mustafa erklären, dass einige Palästinenser aufgrund ihrer Geschichte Antisemitismus herausgebildet hätten, aber das sei bei Palästinenserinnen und Palästinensern nicht häufiger als bei anderen.
Das findet auch der Aktivist, Deutsch-Israeli und ehemalige Linken-Politiker Jules El-Khatib, der um seine Familie im Gaza-Streifen bangt. Er verurteilt die Hamas, kritisiert allerdings auch die israelische Politik und setzt sich für Frieden und einen Waffenstillstand ein. Deswegen, sagt er, werde ihm gerade Hamas-Propaganda vorgeworfen. „Gewalt ist immer etwas, das wir verurteilen sollten, das ist keine Propaganda. Ich würde mir doch wünschen, dass ich nicht darüber berichten muss, dass die dreijährige Tochter von meinem Großcousin gestorben ist. Und übrigens: Ihre Familie stand in Opposition zu Hamas!“, so El-Khatib weiter.
Die Fronten scheinen unüberbrückbar
Die Fronten im Nahost-Konflikt, sie scheinen unüberbrückbar geworden zu sein, selbst hier in Deutschland. Beim Themenabend Nahost im BR Fernsehen zum Beispiel streitet der Politikwissenschaftler und Vorsitzender des Palästina-Forums Aref Hajjaj mit dem Deutsch-Israeli arabischer Herkunft, dem Extremismusforscher Ahmad Mansour.
Joana Osman versucht trotz solcher Konflikte das Verbindende zu sehen, sie sagt: „Ich habe das nie empfunden, dass Israelis und Palästinenser*innen weit auseinanderliegend sind.“ Gewalt, Vertreibung, Flucht, Diskriminierung in Form von Antisemitismus und von Rassismus. Auch wenn eine Gruppe kein Palästinensertuch im Schrank hat, die Geschichten beider Seiten haben für die Autorin trotz des andauernden Konflikts sehr viel gemeinsam.