„Poor Things“ Warum wir den „Film des Jahres“ lieben und hassen sollten
Der neue Film „Poor Things“ mit Emma Stone ist ein feministisches Frankenstein-Märchen und gilt schon jetzt als der Film des Jahres. Dabei ist der Lanthimos-Streifen trotz seines feministischen Potenzials politisch fragwürdig.
Ist das widerlich. Ein völlig entstellter, Frankenstein-ähnlicher Doktor schneidet mit einem Skalpell am Hinterkopf einer Frau herum. Kamera: Voller Fokus auf die Hirnmasse. Wir sehen ein Experiment des Wissenschaftlers Dr. Godwin Baxter. Godwin, der sich selbst ganz bescheiden „God“ nennt, findet kurz zuvor am Flussufer den Körper einer schwangeren Frau, die sich ertränkt hat. Das Baby lebt noch, und so tut er das, was für ihn in diesem Moment ganz offensichtlich auf der Hand liegt: Er pflanzt der erwachsene Frau das lebendige Baby-Gehirn ein!
Es ist die Geburtsstunde von Bella Baxter, brillant gespielt von Emma Stone. Sie bewegt sich lange wie ein Kleinkind, das gerade laufen lernt. Aber ihr Intellekt hat bald nichts mehr mit einem Babyhirn zu tun: Bellas Grammatik erinnert an Yoda aus Star Wars: Viel zu lernen sie noch hat. Aber genau das ist das Interessante: Sie weiß nichts von Konventionen, sozialen Regeln oder Gepflogenheiten. Und so entwickelt sie völlig losgelöst von allen Vorurteilen und dem Status Quo eine Leidenschaft für Liebe, Sex, Gleichberechtigung und Sozialismus.
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Poor Things | Offizieller Trailer | Ab 18.01. nur im Kino
„Poor Things“: Oscar-Kandidat!
Filmkritiker sind sich bei „Poor Things“ einig: Oscar-Kandidat! Wären Filmneuheiten Quidditch-Bälle, „Poor Things“ wäre so etwas wie der Goldene Schnatz. „Barbie in gut“, titelt der Youtube-Kanal „Moviepilot“, „feministischer Zeitgeist-Hit“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. „Die Furchtlose“, nennt die ZEIT Bella Baxter.
Ein feministisches Frankenstein-Märchen
Tatsächlich ist der Film unglaublich witzig, die Bilder opulent. Und „Poor Things“ ist ein extrem politischer Film: ein feministisches Frankenstein-Märchen. Zu Beginn zum Beispiel will Godwins Assistent Max McCandles Bella heiraten. Er hat sich verliebt, weil sie ihm aus Neugier einmal übers Ohr geschleckt hat. Also setzen die werten Herren einen Ehevertrag auf, der Bella an Max binden soll. Aber Bella fragt sich: Was zum Teufel ist ein Vertrag? Und warum soll ich mich an das halten, was zwei Typen auf ein Blatt Papier geschrieben haben? Also büxt sie aus und stürzt sich stattdessen auf eine Abenteuerreise durch Europa.
Eine Gesellschaft in der Krise, die sie selbst erzeugt hat
Bella ist eine Anarchistin. Mit Autoritäten kann sie nichts anfangen. Sie blickt auf die Gesellschaft und fragt sich: Was soll das alles? Und so stellt sie ungewollt die politisch wichtigste Frage unserer Zeit: Warum leben wir in einer Gesellschaft, die in Krisen steckt, die sie selbst erzeugt hat? Spaltung, Klimakrise, Ungleichheit, Kriege über Kriege, in denen täglich Unzählige sterben. Es täte gut, ab und an mit dem Bella-Baxter-Blick auf die Welt zu schauen – auf den Unsinn dessen, was wir für natürlich und vernünftig halten.
Sei doch bitte vernünftig!
Die Männer, sie rufen Bella immer wieder zu, dass sie doch bitte vernünftig sein soll! Aber was ist schon Vernunft? Ist es vernünftig, 40 Stunden pro Woche zu malochen, damit irgendein Konzern seine Rendite steigert? Und ist es vernünftig, einen Großteil seines Lohns für Miete abzudrücken, wo es doch auch Wohnraum für alle geben könnte? Bella Baxter würde das nicht verstehen. Vor allem weil sie nicht müde wird diese Frage zu stellen: WARUM? Und warum tabuisiert diese Gesellschaft so viel? Dirty-Talk in der Öffentlichkeit? Queere Liebe? Sexarbeit?
Die Gesellschaftskritik von „Poor Things“ verliert sich
Leider zieht der Film seine Kritik an den Verhältnissen nicht durch. Die emanzipatorische Idee verkommt stattdessen zu einer weinerlichen Abhandlung über Männlichkeit. Statt sich auf die neuen Ideen zu konzentrieren, die eine Bella Baxter für die Gesellschaft zu bieten hätte, findet „Poor Things“ es stattdessen interessanter, sich damit zu beschäftigen, welche Auswirkungen das Bella-Experiment auf die um sie herumkreisenden Männer hat.
Eine weinerliche Abhandlung über Männlichkeit
Die Männer-Figuren, hier Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn, in "Poor Things" sind allesamt arme Würstchen
Die Männer-Figuren sind allesamt arme Würstchen. Und Bella Baxter schrammt haarscharf an einer Lolita-Fantasie vorbei: Kindsfrau, Nymphomanin, Prostituierte aus Leidenschaft. Aber was will man(n) erwarten: Das Drehbuch stammt von einem Mann, ein Mann hat Regie geführt und die Romanvorlage, auf der „Poor Things“ basiert, hat – Überraschung – auch ein Mann geschrieben. Welch Wunder, dass niemand vergessen hat, uns zu zeigen, was eine Frau, die sich an keine Konventionen hält, eigentlich für Männer bedeutet. Ja, auch Männer sollten unbedingt begreifen, dass Frauen ihnen nicht gehören. Aber ich hätte lieber gesehen, wie Bella Baxter die Gesellschaft umkrempelt, dafür weniger Kens, die auch um diese Goth-Barbie herumschwirren. Und so kann man den „Film des Jahres“ aus politischer Sicht zwar lieben, muss ihn aber gleichzeitig auch hassen.