Musikgenres entwickeln sich stets weiter, das ist nichts Ungewöhnliches. Doch gibt es auch sehr standhafte Musikrichtungen: Die, bei denen keiner mit einer großen Neuerfindung rechnet. Zum Beispiel der schnelle Memphis (T)Rap oder der Chicago Drill Sound. Das sind Hip-Hop-Genres, die seit Jahren standhaft ihren Platz im Mainstream beanspruchen und sich wenig bis gar nicht verändert haben.

Eine umso überraschendere Wendung erlebt dafür zuletzt der UK-Grime-Rap. Artists entziehen dem Genre gerade sein Rückenmark, also seine typischen Merkmale des aggressiven Straßenraps. Ersetzt wird das durch eine unerwartet neue Klangfarbe. Diese Entwicklung trägt den Namen MellowGrime und hört sich so an:

Sanfte Soulsamples statt schrille Beats

Statt schrillen Beats hören wir sanfte Soulsamples, die man sonst nur in verstaubten Plattenläden in New Orleans findet. Diese Instrumentals werden verknüpft mit dem anspruchsvollen Stil und dem hohen Rap-Tempo des Grimes. So werden zwei an sich kontrastierende Stile miteinander verbunden, die einen ganz speziellen Sound erzeugen. Und es entsteht ein Gefühl der Sehnsucht und der Nostalgie.

Grime war der Straßensound der späten 90er Jahre aus dem United Kingdom. Er vermittelt eine düstere Note, die Raps sind aggressiv und laut. Grime thematisiert die Probleme urbaner Lebensrealitäten, Polizeigewalt und Rassismus. Es sind Künstler wie Wiley, Skepta oder Dizzee Rascal, die die Szene damals revolutionieren.

Dass gerade Grime mit weichen Samples so gut funktioniert, ist das Faszinierende an dem neuen Genre MellowGrime. Gleichzeitig geht das Gefühl der Urbanität, der Rohheit und Entschlossenheit des UK Grime nicht verloren.

Ein neues Rückgrat für Grime

MellowGrime entsteht im Jahr 2015, als der Produzent KwolleM sein Debut Album via SoundCloud veröffentlicht. Es wird ein großer Erfolg in der Underground-Szene Londons. KwolleM heißt rückwärts gesprochen Mellow K. Daher der Name des Genres. KwolleM gilt als Pionier des Stils. Auf seinen Alben finden sich Schwergewichte wie Skepta, Dizziee Rascal oder AJ Tracy.

Sein Mellow-Genre verstößt gegen die allgemeine Erwartungshaltung des Raps – oder wer würde eine beruhigende Klaviermelodie in Kombination mit dem Grime-Heavy-Hitter Skepta erwarten? Und so ersetzt KwolleM das Rückgrat des UK-Grime aus Garage, Dancehall und Reggae durch ein Skelett von Soul-Jazz und R&B-Samples. Was aber bestehen bleibt: die harte und aggressive Sprache. Die Texte handeln nach wie vor von Drogengewalt oder Ungleichheit.

"Your favorite artist's favorite genre"

Noch größer wird MellowGrime im Jahr 2023: Auf den Videoplattformen Instagram und TikTok werden die Tracks aus dem Genre tausendfach geteilt. MellowGrime ist lang noch nicht so bekannt wie der ursprüngliche Grime. Er gilt eher als Hörgenuss für Szeneliebhaber und Neugierige. Nach dem Motto: “your favorite artist's favorite genre“. Dabei verdient die Magie des MellowGrime noch mehr Aufmerksamkeit: KwolleM beschreibt in einem Interview, dass er mit seiner Musik versucht, „das Gefühl einzufangen, wie wenn man nach einem gelungenem Abend mit Freunden mit dem Nachtbus nach Hause fährt.“