Sport - Olympia


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Kugelstoßerin Birgit Kober "Ich trainiere mit Youtube-Videos“

Birgit Kober gehört zu den besten paralympischen Kugelstoßerinnen. Sie sitzt eigentlich im Rollstuhl. Doch bei den Paralympics in Rio will sie sich einen Traum erfüllen: im Stehen starten – und Gold gewinnen.

Stand: 22.08.2016

Birgit Kober  | Bild: BR/ Max Hofstetter

Frau Kober, vor vier Jahren saßen Sie bei den Paralympics in London im Rollstuhl. Jetzt wollen Sie stehend starten. Brauchen Sie den Rollstuhl nicht mehr?

Birgit Kober: Doch, doch. Den brauche ich noch. Ich sitze nach wie vor im Rollstuhl. Aber ich habe gelernt, ein paar Schritte zu gehen.

Warum wollen Sie denn überhaupt im Stehen starten?

Vor drei Jahren gab es eine Regeländerung bei den sitzenden Wurfdisziplinen. Seitdem werden alle Rollstuhl-Starter an Beinen und Bauch festgezurrt. So kann sich keiner mehr bewegen. Aber es ist eindeutiger, um Ergebnisse zu vergleichen. Bei mir führte das dazu, dass ich ständig Blutergüsse und Zerrungen hatte. So macht Sport keinen Spaß. Also wollte ich die Klasse wechseln und im Stehen starten.  


Aber Stehen zu können ­– das mussten Sie erst mühsam lernen. Wie haben Sie das geschafft?

Das war nicht einfach. Wegen meiner Behinderung kann ich Arme und Beine nicht richtig steuern. Das Gleichgewicht halte ich nur schwer. Bei meinen ersten Stehversuchen bin ich ständig umgefallen. Ich habe eine Matte ausgelegt und Knieschoner angezogen, damit ich mir nicht wehtue. Ich musste viel herumtüfteln, habe viel mit Youtube-Videos trainiert. Die haben mir geholfen, einen sicheren Stand und eine passende Technik zu finden.

Sie haben mit Youtube-Videos trainiert?

Ja. Die Schrittfolge beim Kugelstoßen habe ich mir zum Beispiel von dem Zehnkämpfer Ashton Eaton abgeschaut. Denn einen Trainer habe ich nur selten. Ich finde niemanden, der mich regelmäßig und über einen längeren Zeitraum unterstützen könnte. Das ist schon bitter, wenn ich sehe, wie gut nicht behinderte Sportler versorgt sind – und wie es mir selbst geht.


Muss es nicht furchtbar anstrengend für Sie gewesen sein, auf einmal stehend zu trainieren?

Klar, das war und ist es immer noch. Morgens bereite ich mir schon das Abendessen zu. Denn ich weiß: Nach dem Training habe ich keine Kraft mehr. Manchmal bin ich so fertig, dass ich sogar in meinen Trainingsklamotten ins Bett gehe. Aber stehen zu können – das macht mich verdammt glücklich. So bekomme ich etwas von dem Menschen zurück, der ich früher war. Ich habe meine Behinderung mit 35 Jahren bekommen und manchmal fehlt mir mein altes Leben.

Was ist damals passiert?  

Eigentlich war es eine Lappalie, eine Schürfwunde am Bein. Weil die sich entzündet hat, musste ich ins Krankenhaus. Dort bekam ich so schlimme epileptische Anfälle, dass man mich auf die Intensivstation verlegte. Eine Krankenschwester hat sich bei der Dosierung eines Medikaments verschrieben und Milligramm mit Milliliter vertauscht. Dadurch habe ich eine massiv toxische Dosis abbekommen. Nur durch mehrere Dialysen konnte mein Leben gerettet werden. Mein Kleinhirn ist seitdem geschädigt und ich kann Bewegungsabläufe von Armen und Beinen nicht mehr richtig steuern.

Wie verarbeitet man so einen schlimmen Schicksalsschlag?  

Es ist hart. Dein altes Leben bricht ab, ein neues fängt an. Dann muss man sich entscheiden, ob man sitzen bleibt, oder weitermacht. Wenn du dich fürs Weitermachen entscheidest, brauchst du etwas, das dich zieht. Das war bei mir der Sport. Eine neue Erfahrung, eine Herausforderung. Dass daraus mal Leistungssport werden würde, hätte ich nie gedacht.

Bei den letzten Paralympics in London haben Sie Gold gewonnen – in der sitzenden Klasse allerdings. Wie schwierig wird es, diesen Erfolg zu wiederholen, wenn Sie stehend starten?

Das wird natürlich viel schwerer als früher. Aber das ist es mir wert. Denn manchmal muss man etwas tun, das für einen selbst wichtig ist. Ich muss mich im Spiegel angucken können. Und ich finde, diese neue Regel geht gegen alles, wofür der Behindertensport steht. Sie ist ein Rückschritt und hat für mich nichts mehr mit der Idee der Paralympischen Spiele zu tun.

Was sollte Ihrer Meinung nach anders werden?

Es ist eine Tendenz da, dass der paralympische Sport immer leistungsorientierter wird. Man sollte aber nicht vergessen, dass es auch eine zweite Ebene gibt. Nämlich, dass der Sport Menschen hilft, zurück ins Leben zu finden. Und natürlich muss es Klassen geben, um die Leistungen miteinander vergleichen zu können. Aber schön wäre es, wenn es zusätzlich eine Klasse gäbe, für die eine gewisse Norm gilt. Und alle, die diese Norm erfüllen, dürfen darin starten. Völlig egal, ob blind, querschnittsgelähmt oder gesund. Dann könnten alle zusammen starten. Und Inklusion wäre keine Einbahnstraße.

Kurzbiografie

Geboren: 10. Juli 1971 in München
Disziplin: Kugelstoßen
Behinderung: Koordinationsstörung der Arme und Beine
Größte Erfolge: 2 x Gold bei den Paralympics in London 2012

Birgit Kober, Jahrgang 1971, lebt in München. Seit einem ärztlichen Behandlungsfehler sitzt sie im Rollstuhl, weil sie Arme und Beine nicht richtig steuern kann. Bei den Paralympics in London gewann sie zwei Mal Gold, im Kugelstoßen und Speerwurf. Dieses Jahr in Rio wird sie im Stehen an den Start gehen.


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