Preisgekrönte Reportage Helfer am Limit - ein Dreh wird zur Dauerstory
Herbst 2015. Eine Million Flüchtlinge sind in diesem Jahr bisher nach Deutschland gekommen. Das "Wir schaffen das!" der Bundeskanzlerin ringt der Republik viel ab. Die Worte "Willkommenskultur" und "Belastungsgrenze" bereichern Talkshowdiskurse und Stammtischdiskussionen. Tausende - Stabschefs, Bürgermeisterinnen, Ehrenamtliche - sind schlaflos.
Die politische Interessenvielfalt ist kaum überschaubar. Genauso wenig wie die Brennpunkte: Türkei, Griechenland, Ungarn, Österreich. Wir berichten viel, gucken überall hin – und doch irgendwie nirgends so richtig. In unserer eigenen Wahrnehmung bleiben wir bildlich wie inhaltlich häufig seltsam halbtotal und distanziert.
Wie berichten wir über das Schicksal der Flüchtlinge ?
Mitte Oktober 2015 also ganz konkret die Frage: Was senden wir in zwei Wochen im ARD-Mittagsmagazin? Können wir das wirklich noch nicht sagen? Oder könnten wir doch so mutig sein, uns früher festzulegen? Wir versuchen's, wollen ein bisschen nachhaltiger sein: eine Woche, ein Schauplatz, fünf Folgen. Nahaufnahme statt Halbtotale. In der aktuellen Zulieferredaktion kann sich BR-Reporterin Lisa Schurr vorstellen, die nächsten zwei Wochen auf die Produktion zu verwenden – tauscht Schichten mit kooperativen Kollegen, recherchiert.
Quer durch Österreich werden zu diesem Zeitpunkt Flüchtlinge hauptsächlich nach Freilassing gefahren. Dann spitzt sich die Lage in Simbach zu. Unsere Reporterin ruft an: "Einen besseren Protagonisten habe ich in Wegscheid gefunden – könnt ihr Euch das auch vorstellen?". Wir können.
Die Reporterinnen sind schnell mittendrin
5.500 Einwohner, eine ehemalige Zollstation und auf einmal täglich Hunderte von Flüchtlingen – was macht eine solche Ausnahmesituation mit einem Ort wie Wegscheid im Landkreis Passau? Nichts beantwortet diese Frage besser als der Alltag der Ehrenamtlichen: Feuerwehrler Lothar Venus, Marietta Huber, Rot Kreuz-Helferin, und der Übersetzer Mansour Rastegar.
Zwei von ihnen treffen wir zufällig an der Grenze. Zeit, sich erstmal kennenzulernen: keine. Trotzdem gelingt es unseren Reporterinnen Lisa Schurr und Tatjana Sikorski als unauffälliges Zweierteam sofort, ihren Protagonisten nahe zu kommen. Eine souverän geführte kleine Kamera, beobachtend und mittendrin macht's möglich. Dazu ruhige und aussagekräftige Symbolbilder. Als "bildstark, einfühlsam und beeindruckend" wird die Civis-Jury die fünf Beiträge der Reportageserie später beschreiben.
Andere Aktualitäts-Kollegen von Fernsehen und Hörfunk decken zur gleichen Zeit mehrere Brennpunkte in Niederbayern ab, liefern rund um die Uhr tagesaktuelle Berichte und Live-Schalten für den BR und die ARD. Das Mittagsmagazin sendet ihre Berichte oft parallel zu den Ausgaben der Serie, die kein tagesaktuelles Material enthalten. Denn das Reportage-Team hat vorgearbeitet. Drei Tage Dreh, zwei Tage Schnitt mit Cutterin Nina Herdin in München-Freimann, wieder zwei Tage Dreh in Wegscheid, danach Schnitt der letzten beiden Folgen in München-Freimann. Der Vorteil: Kein zusätzliches Schnittmobil, wenig zusätzliche Kosten, aber eine spannend erzählte Berichterstattung, die dran bleibt an den drei Menschen vor Ort.
Mehr als Nachrichten
Die einzelnen Folgen bauen linear im Mittagsmagazin einen Spannungsbogen von Tag zu Tag – und fast noch besser online, da sie oft mit Cliffhanger enden. Die Kollegen von den Nachrichten BR24 stellen sie sofort ins Netz und in die App. Und auch die Kollegen von der Tagesschau werden neugierig - auf 25 Minuten dichte Reportage, auf 25 Minuten Weltpolitik, erzählt in einem kleinen bayerischen Ort.
Eindrücke hinterlassen
Was bleibt beim Zuschauer hängen, wenn er die dramatischen Flüchtlings-Bilder von unterschiedlichen Orten in Europa in den Nachrichten sieht? Wohl vor allem der Eindruck der schieren Masse und dadurch ein Gefühl der Überforderung. Als "deprimierend“ bezeichnete ein Jury-Mitglied bei der Civis-Preisverleihung diese Berichte. Die Bundesintegrationsministerin Aydan Özoguz warf gar die Frage auf, ob wir nicht zeitweise zu viel über die Flüchtlingssituation berichten. Tatsächlich? Senden wir nicht einfach nur zu oft die immer gleichen Bilder? Geht es nicht vielmehr darum, auch in tagesaktuellen Magazinen auf eine Art und Weise zu berichten, die Empathie möglich macht? "Am Limit – Die Helfer von Wegscheid" ist ein Versuch. Gelungen ist er in Momenten wie diesem: Die Rotkreuz-Helferin Marietta Huber kocht zuhause für die anderen Helfer Gulaschsuppe. "Wir gribschen ja schon alle am Zahnfleisch" erzählt sie. Trotzdem spricht sie nicht von Überforderung. Nebenbei läuft die Tagesschau im Fernsehen, es geht um die politische Debatte über eine Obergrenze für Flüchtlinge, zu sehen sind die Menschenschlangen am Wegscheider Grenzübergang. Marietta Huber schaut kurz hin und schüttelt den Kopf: "Die sollen nicht streiten, die sollen was tun!"