musica viva zu 75 Jahre BR "Durch Wiederholung und Hypnose ins Kurzzeitgedächtnis"
Das musica viva-Konzert am 20. Dezember im Herkulessaal der Residenz beschließt das Jubiläumsjahr des Bayerischen Rundfunks und des BRSO mit einer musikalischen Liebeserklärung an das Radio: Bernhard Langs Auftragskomposition GAME 18 Radio Loops nach Pausenzeichen aus den ARD Archiven. Auf dem Programm steht auch Unsuk Chins Violinkonzert Scherben der Stille für Leonidas Kavakos, außerdem die Deutsche Erstaufführung des raumgreifenden Orchesterwerks Anticipations von Philippe Manoury. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, selbst ein Jubilar, wird geleitet von David Robertson.
"In den 70er Jahren, als ich ein junger Mensch war", erinnert sich Bernhard Lang, "ist man abends mit dem Radio im Bett gelegen und hat Popmusik von zum Beispiel Radio Luxemburg oder Piratensendern gehört." Der 1957 in Linz geborene Komponist ist mit dem Medium Radio sozialisiert worden. Den Rundfunkanstalten, die über Jahrzehnte maßgeblich die Entstehung experimenteller wie elektronischer Musik beförderten, hat Lang so manche musikalische Entdeckungsreise zu verdanken - besonders dann, wenn die gesendete Musik etwas Widerständiges besaß.
"Dadurch waren die Rundfunkanstalten auch ein Teil der europäischen Kulturdefinition. Derzeit gibt es einige, die das anders sehen und - so könnte man sagen - das Familiensilber aus dem Fenster schmeißen und die europäische Kulturidentität gegen eine kapitalisierte austauschen wollen. Und das ist fatal."
Bernhard Lang
Lang: "Radiowellen sind nicht durch Grenzen beschränkt"
Die Idee für eine orchestrale Ode an das Radio geht zurück auf das Jahr 2020, als bei der musica viva Bernhard Langs Violinkonzert Monadologie XXXIX.2 Redux uraufgeführt wurde. Der Komponist und Winrich Hopp, der künstlerische Leiter der musica viva, kamen auf die große Bedeutung des Bayerischen Rundfunks - damals wie heute - zu sprechen.
So wuchs der Gedanke, anlässlich 75 Jahre BR und BRSO, ein neues Werk auf einigen ausgewählten Pausenzeichen, also den akustischen Erkennungsmelodien verschiedener Radiostationen aufzubauen. Der "Alte Peter" als Erkennungsmelodie des Bayerischen Rundfunks war für die finale Auswahl sogleich gesetzt, ergänzt um sechs weitere Jingles u. a. aus Kiew, Peking und Warschau. Die Internationalität des Materials wundert kaum, denn "Radiowellen sind nicht durch Grenzen beschränkt", sagt Lang.
Sieben ikonische Pausenzeichen
Für ihn, der früher selbst Jingles komponierte und in seiner Musik oft auf Wiederholungsstrukturen setzt, sind die sieben ikonischen Pausenzeichen in doppelter Hinsicht interessant: Zum einen als Symbolträger einer lebendigen Radiokultur, zum anderen als signifikante musikalische Zellen, die auch nach kompositorischen Verfremdungsprozessen wiedererkennbar bleiben. So sehr prägen sich die Loops "durch Wiederholung und Hypnose ins Kurzzeitgedächtnis ein", erklärt der Komponist. Damit geben sie dem in sieben Teile gegliederten Orchesterwerk eine greifbare Struktur.
"Die klanglichen Originale werden durch Wiederholungsstrukturen transformiert. Dabei kommen Prinzipien zum Zug, die ich schon seit vielen Jahren in meinen GAME-Stücken anwende: in variablen und improvisatorischen Strukturen werden - je nach Determinationsgrad - Entscheidungen an die Musikerinnen und Musiker des Orchesters übergeben."
Bernhard Lang, Komponist
Bernhard Lang hat einen - im wahren Sinne des Wortes - spielerischen Umgang mit den Pausenzeichen entwickelt: Das Orchesterstück wird bereits durch seinen Titel als Game ausgewiesen. Tatsächlich enthält die Partitur Passagen, in denen musikalische Entscheidungen im Ermessen der Musikerinnen und Musiker des Orchesters liegen. Der Umgang mit den notierten Materialfragmenten ist allerdings nicht gänzlich frei und intuitiv, sondern wird durch vordefinierte Spielregeln determiniert - womit schon angelegt ist, was für das "Spiel" als wesentliches Konstitutionsprinzip gilt: die Dichotomie aus Offenheit und Regel.
Dies ist charakteristisch für alle Stücke der langjährigen GAME-Serie von Bernhard Lang. Doch die Uraufführung von GAME 18 Radio Loops ist auch in anderer Hinsicht eine Premiere: Erstmals fordert Bernhard Lang ein großes Orchester zum Spiel heraus. So werden schon gleich zu Beginn anarchische Zustände herrschen, wenn alle Orchestermitglieder frei sind und der Dirigent noch nicht einmal den Takt vorgibt. "Aber ich bin dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks inzwischen seit 20 Jahren verbunden", so Bernhard Lang beruhigt und neugierig zugleich. "Deshalb wage ich das."
Für den musica viva-Blog hat Bernhard Lang über die neue Komposition und seine Faszination fürs Radio gesprochen.
Unsuk Chin: ein Violinkonzert für Leonidas Kavakos
Eigentlich wollte Unsuk Chin nie ein zweites Violinkonzert schreiben - doch der einzigartige Musiker Leonidas Kavakos konnte sie umstimmen. So ist Scherben der Stille aus dem Jahr 2021 ein, wie Chin es ausdrückt, "subjektives Portrait des musikalischen Könnens von Leonidas Kavakos und ein Dialog mit diesem Musiker, der vor Intensität glüht und zugleich makellos und absolut fokussiert spielt". In diesem Jahr erhielt die aus Korea stammende Komponistin den Ernst von Siemens Musikpreis.
Philippe Manoury: über die Durchlässigkeit des Konzertsaals
Weil Antizipation für Philippe Manoury "ein fundamentaler Motor der Musik" ist, widmet der französische Komponist sein Orchesterwerk der Vorstellungskraft des Hörens. Anticipations für großes Orchester ist ein Kompositionsauftrag von musica viva, Casa da Música Porto und Radio France. Bei der Deutschen Erstaufführung wird sich der Herkulessaal der Residenz auf ungewöhnliche Weise öffnen: Von außerhalb des Saals bewegen sich vereinzelte Musikerinnen und Musiker des Orchesters hin zur Bühne, bis dort die Stimmen dieser "Whistleblower" übernommen werden.
Programm und Mitwirkende
Bernhard Lang [*1957]
GAME 18 Radio Loops
für großes Orchester und Live-Elektronik, nach Pausenzeichen aus den ARD Archiven [2023]
Kompositionsauftrag der musica viva anlässlich 75 Jahre Bayerischer Rundfunk
URAUFFÜHRUNG
Unsuk Chin [*1961]
Scherben der Stille
Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 [2021]
Philippe Manoury [*1952]
Anticipations
für großes Orchester [2019]
Kompositionsauftrag der musica viva, Casa da Música Porto und Radio France
DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG
Leonidas Kavakos Violine
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
David Robertson Leitung
Zoro Babel Klangregie
Tickets und Abonnements
Karten für die Konzerte der musica viva sind im freien Verkauf über shop.br-ticket.de erhältlich. Das vollständige Programm der Saison 2024/25 sowie weitere Informationen und Sendetermine für Konzertübertragungen etc. online unter br-musica-viva.de.