Legendäre Route mit bröckelndem Mythos Über den Stüdlgrat auf den Großglockner
Mit über 5.000 Besteigungen im Sommer zählt der Großglockner zu den ganz großen Zielen in den Alpen. Der mit 3.798 Metern höchste Berg Österreichs ist außerdem ein Mythos und wurde schon vor über 200 Jahren erstbestiegen. Wie wenige andere Berge zeigt der „König der Hohen Tauern“, wie sich um einen Berg herum Naturlandschaft, Historie und Gegenwart überlagern, inklusive Klimawandel. Bei alledem ist die Besteigung des Großglockners aber auch heute noch ein besonderes Erlebnis.
Vormittags um 11 Uhr - der Gipfel. Tränen schimmern in den blauen Augen eines Klagenfurters. Geführt von seinem Partner hat er die Spitze sogar über den legendären Stüdlgrat erreicht.
Es ist schon beeindruckend, was ein Berg und das Erlebnis seiner Besteigung im Menschen auslösen kann - Gefühle, die nicht leicht in Worte zu fassen sind. Martin Gratz, der Leiter der Musikkapelle Kals, drückt es mit der überlieferten Weise des Glockner-Jodlers aus, die er mit gut trainierter Lunge auch auf 3.800 Metern mit seiner Trompete bläst und damit einem Gefühl Luft macht, das kitschig scheint, aber echt ist und tief.
Michel Amraser, der Obmann des Kalser Bergführervereins, kennt den Prozess, bei dem das physische Vorwärtskommen zugleich zu inneren Erfahrung wird. Die Größe und Wucht des Gebirges, verknüpft mit der Ausgesetztheit auf den schmalen Graten, zeigt wie klein der Mensch hier wird. Angesichts gut 600 Höhenmeter Stüdlgrat, aufgeteilt in einzelne Felsblöcke und Klettereien, schrumpft das Ego, erfüllt die Größe das eigene Innere.
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Die Schau vom weithin höchsten Punkt aus ist unbegrenzt. Dieser Erfahrungsraum zwischen Erzherzog-Johann-Hütte und Stüdlgrat war hundert Jahre lang eine reine Männerangelegenheit. Bis der alpine Glockner-Machismo dann aufgebrochen wurde. Lisi Fürstaller zählt zu dem gerade mal einem Prozent Frauen unter den Bergführern in Österreich. Auch sie liebt den Großglockner, auf den sie 10-15 Mal im Jahr ihre Gäste führt. Aber nicht mehr auf dem alten Weg von der Heiligenbluter Seite aus über die Pasterze, denn die einst weiße Majestät wandelt sich zum graubraunen Riesen. Von der einst legendären Eiskletterei in der Pallavicini-Rinne bleibt im Hochsommer eine steile Schuttreise.
Wo noch vor Jahren die rissig-raue Gletscherzunge der Pasterze war, liegt heute ein See mit Eisschollen. Der Großglockner wandelt sich rapide, der Mythos bröckelt und lebt dennoch durch die Wucht der Naturlandschaft. Knapp eine Million Menschen fahren im Sommerhalbjahr über die Großglocknerstraße und bestaunen von der Franz-Josefs-Höhe aus den Berg und seine Gletscher. Außer der Großglockner-Hochalpenstraße zählt nur Schloss Schönbrunn in Wien so viele Besucher im Jahr.