Nach Suizid Al-Bakrs in der JVA Leipzig Merkel fordert umfassende Aufklärung
Nach dem Suizid des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr in einem Leipziger Gefängnis werden zunehmend Forderungen nach einem Untersuchungsausschuss laut. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert eine umfassende Aufklärung. Sachsens Ministerpräsident Tillich räumt derweil ein: In der JVA wurden Fehler gemacht.

Einer der wichtigsten Gefangenen Deutschlands erhängt sich in seiner Zelle. Die sächsische Justiz erklärt, bei der Überwachung sei alles nach Vorschrift gelaufen. Doch immer mehr Stimmen werden laut, die einen Untersuchungsausschuss fordern.
Gründliche Untersuchung gefordert
Neben der Vorsitzenden des Bundestags-Rechtsausschusses Renate Künast und Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat nun auch Bundeskanzlerin Angela Merkel eine umfassende Aufklärung verlangt. Wenn es zu solch einem Fall komme, sei etwas schief gelaufen, seien Warnzeichen nicht frühzeitig erkannt und Fehleinschätzungen vorgenommen worden, so Regierungssprecher Steffen Seibert am Freitag in Berlin. Der Fall müsse deshalb gründlich untersucht werden.
Kein Alleingang der Sachsen
Grünen-Politikerin Renate Künast sagte der "Berliner Zeitung", es gehe nicht, dass das die Landesregierung und die sächsische Justiz allein bestimmen. Aus ihrer Sicht gebe es nur zwei Möglichkeiten, um dies zu gewährleisten: "Entweder man setzt eine unabhängige Untersuchungskommission ein - oder gleich einen Untersuchungsausschuss." Dass sich der Syrer in der Leipziger Justizvollzugsanstalt das Leben nehmen konnte, nannte Künast "ungeheuerlich". Denn dass ein potenzieller Selbstmordattentäter zum Suizid bereit ist, liege auf der Hand. Außerdem habe die Justiz eine Fürsorgepflicht.
Tillich räumt Fehler ein
Unterstützung zu diesen Plänen kommt auch von Sachsens Ministerpräsidnet Stanislaw Tillich: Auch er will die Vorfälle in Leipzig aufklären lassen. In der JVA Leipzig sei man mit dem Terrorverdächtigen Al-Bakr nicht so umgegangen wie es nötig gewesen wäre.
"Deswegen werden wir die Vorbereitungen auf Häftlinge mit einem solchen Täterprofil verbessern müssen; zum zweiten werden wir auch die Bedingungen bei der Einstufung und Einordnung eines solchen Täters in den sächsischen Justizvollzugsanstalten verbessern müssen."
Stanislaw Tillich, Ministerpräsident Sachsen
Personelle Konsequenzen aus dem Suizid des Terrorverdächtigen zieht Ministerpräsident Tillich nicht. Passend dazu argumentiert sein Justizminister Gemkow, ebenfalls von der CDU: Würde er zurücktreten, würde er sich aus der Verantwortung stehlen. Nach wie vor sagt Gemkow: Die Bediensteten in der JVA Leipzig hätten gemäß der Vorschriften gehandelt. Heute allerdings würde man einiges anders machen. Politiker der SPD und aus der Opposition sehen das anders.
Parteiübergreifende Kritik
Linken-Chefin Katja Kipping wirft den sächsischen Behörden völliges Versagen vor. Es handele sich um ein totales Fiasko der Staatsregierung, sagte die Dresdner Politikerin der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Kipping verlangte, Gemkow müsse zurücktreten. "Der Justizminister wiegelt ab und flüchtet sich in absurdeste Erklärungsversuche, anstatt einfach mal die Verantwortung zu übernehmen - und zu gehen", sagte Kipping der dpa. Der Selbstmord verhindere die so wichtige Aufklärung über die möglichen Hintermänner des vermeintlichen Attentäters und seine Pläne und Ziele.
"Die CDU-Sachsen redet immer von Recht und Ordnung, ist aber in Wahrheit ein Sicherheitsrisiko für das ganze Land."
Katja Kipping, Parteivorsitzende Die Linke
Unzureichende Überwachung
Auch der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach kritisierte das Vorgehen der Justizbehörden. "Es gab offenbar Fehleinschätzungen", sagte der Innenexperte der "Passauer Neuen Presse". "Angesichts der Bedeutung des Tatvorwurfs und der gesamten Umstände wäre eine lückenlose Überwachung des Häftlings nicht unverhältnismäßig gewesen", sagte Bosbach. "Und wenn Videoüberwachung und anderweitige Unterbringung nicht möglich oder nicht zulässig sind, dann eben durch eine permanente Sitzwache."
Doch der Mann sei in Haft einfach wie ein Kleinkrimineller behandelt worden, kritisierte selbst Sachsens Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD). Er sieht bei der Justiz des Landes eine Mitschuld für die Selbsttötung des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr.
"Es ist offensichtlich zu einer Reihe von Fehleinschätzungen sowohl über die Bedeutung, als auch den Zustand des Gefangenen gekommen"
Sachsens Vize-Ministerpräsident Martin Dulig, SPD.
Ausführliches Gespräch mit Psychologin
Die Selbsttötung des Terrorverdächtigen hätte nicht geschehen dürfen, räumte der sächsische Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) auf einer Pressekonferenz ein. Al-Bakr habe sich mit seinem T-Shirt am Vorgitter seines Haftraums in einem Leipziger Gefängnis stranguliert.
Nach der Einlieferung Al-Bakrs in das Gefängnis sei ein Gespräch geführt worden, um seinen Zustand zu beurteilen, auch eine erfahrene Psychologin sei involviert gewesen. Alle Experten hätten keine akute Selbstmordgefahr festgestellt.
"Er war ruhig und ausgeglichen"
Bei seiner Einweisung ins Gefängnis sei Al-Bakr ruhig und ausgelichen gewesen, erklärte JVA-Chef Rolf Jacob. Für den Folgetag sei ein Gespräch mit einer Psychologin und einem Dolmetscher vorgesehen gewesen.
Al-Bakr sei in seiner Gefängniszelle zunächst alle 15 Minuten kontrolliert worden. Am Mittwochnachmittag sei eine Runde von Experten und Psychologen zu dem Ergebnis gekommen, dass man den Zeitabstand auf 30 Minuten ausdehnen könne. Jacob erläuterte weiter, Al-Bakr habe am Dienstag eine abgerissene Deckenlampe in seiner Zelle gemeldet. "Man hat das als Vandalismus eingestuft." Im Sinne einer Suizidgefährdung sei das nicht gedeutet worden. Später sei bemerkt worden, dass auch eine Steckdose manipuliert gewesen sei. Die letzte reguläre Kontrolle habe 19.30 Uhr stattgefunden. Um 19.45 Uhr sei er von einer Auszubildenen stranguliert gefunden worden. Die Reanimation blieb erfolglos.
"Alle Vorschriften wurden eingehalten"
Um einen Suizid innerhalb einer so kurzen Überwachungslücke zu bewerkstelligen, müsse man sich intensiv mit einer Selbsttötung befassen, erklärte der JVA-Chef. Personalmangel habe im Fall Al-Bakr keine Rolle gespielt. Alle Vorschriften seien eingehalten worden, doch im Nachhinein weiß man, man war zu gutgläubig und habe sich zu sehr auf den äußeren Eindruck verlassen.
Der zweite Verdächtige befindet sich in der JVA Dresden. Er werde jetzt wegen möglicher Suizidgefahr in seiner Zelle durch eine Sitzwache dauerhaft kontrolliert, erklärte das Justizministerium.
Anwalt: Suizidgefahr war offensichtlich
Al-Bakrs Pflichtverteidiger, Alexander Hübner, sprach von einem Skandal. Den Verantwortlichen der Justizvollzugsanstalt sei das Suizidrisiko des Beschuldigten bekannt gewesen. Es sei auch im Protokoll vermerkt worden.
"Ich bin wahnsinnig schockiert und absolut fassungslos, dass so etwas passieren kann."
Rechtsanwalt Alexander Hübner gegenüber Focus
Noch am Mittwochnachmittag habe ihm der stellvertretende JVA-Leiter telefonisch versichert, dass der in Einzelhaft sitzende Al-Bakr "ständig beobachtet" werde. Sein Mandant befand sich seit seiner Festnahme im Hungerstreik. Er habe seit Sonntag nichts gegessen und getrunken.
Fassungslosigkeit über Pannen-Serie
Viele Politiker reagierten bestürzt. Bundesinnenminister de Maiziere sagte, der Suizid erschwere die Ermittlungen nach Hintermännern und sonstigen Beteiligten an den mutmaßlichen Anschlagsplanungen, eine Schlappe im Anti-Terror-Kampf.
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann spricht von einer beispiellosen Aneinanderreihung von Polizei- und Justizversagen. Es fehle in Sachsen offensichtlich jede Voraussetzung für eine professionelle Terrorbekämpfung.
Die rechtspolitische Sprecherin der Grünen im sächsischen Landtag, Katja Meier fordert den Rücktritt des sächsischen Justizministers Sebastian Gemkow. Die Grünen beantragten eine Sondersitzung des Innenausschusses des Bundestags. Von den ersten geheimdienstlichen Informationen zu Anschlagsplanungen bis zum Tod Al-Bakrs in der JVA Leipzig sei der gesamte Fall von Ungereimtheiten und Fragen geprägt. Der Ausschuss soll sich am Montagvormittag mit dem Fall befassen.
Eine Pannenserie
U-Haft wegen Terrorverdacht

Der Terrorverdächtige Dschaber Al-Bakr: Mit diesen Fotos fahndete die Polizei nach ihm.
Al-Bakr hatte unter Terrorverdacht in Untersuchungshaft gesessen. Nach Hinweisen des Verfassungsschutzes waren in seiner Chemnitzer Wohnung anderthalb Kilogramm hochexplosiven Sprengstoffs gefunden worden. In der Nacht zum Montag wurde er von der Polizei festgenommen, nachdem ihn Syrer in einer Leipziger Wohnung festgehalten und der Polizei übergeben hatten. Er soll Anschläge auf Züge beziehungsweise Flughäfen geplant haben.
Einreise als Flüchtling
Al-Bakr war Anfang 2015 als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Nach Recherchen des MDR war er zwischenzeitlich wieder in Syrien. Dem MDR zufolge reiste al-Bakr im Herbst vergangenen Jahres zwei Mal in die Türkei und hielt sich auch einige Zeit in der syrischen Stadt Idlib auf. Mitbewohner aus dem nordsächsischen Eilenburg hätten ebenfalls von seinem Aufenthalt in Idlib berichtet. Sie hätten den 22-Jährigen aber nicht als besonders religiös beschreiben. Nach seiner Rückkehr soll er sich jedoch verändert haben.
Kommentieren
Christian G., Donnerstag, 13.Oktober 2016, 06:39 Uhr
1. Trump-isierung der deutschen Politik
Um 6:00Uhr morgens höre ich zum ersten Mal vom Suizid Al-Bakrs vor nicht einmal acht Stunden. Zwischen 20:00 und 20:30Uhr soll er sich das Leben genommen haben. Im Kopf gehe ich automatisch den Ablauf durch der dann angelaufen sein muß: Wiederbelebunsversuche? Rettungsdienst? Wie lange braucht es dann wohl, bis der Tod festgestellt und die Presse informiert wird? Eine Stunde? Zwei? Es muß jedenfalls schon spät am Abend sein. Aber das hindert diverse Politiker von unterschiedlichem Bekanntheitsgrad nicht daran, sich schon per Twitter aufzuregen. Jetzt schnell politisches Kapital schlagen, bevor alle anderen wach sind. Da wird mit verbal eskaliert ohne auch nur ein Detail zu kennen. Jeder will der Erste sein, jeder will besonders heftig in der Wortwahl sein. Denn das ist die Lehre aus dem Präsidentschaftswahlkampf von Trump: Wer als Erster besonders laut und besonders beleidigend formuliert, der bekommt gratis Sendezeit. Und der BR macht mit im Spiel um Quote. Man möchte kotzen.
Antwort von Elke, Donnerstag, 13.Oktober, 08:58 Uhr anzeigen
Das beste zum Schluss - danke für diesen Kommentar!
Antwort von Robert Braas, Donnerstag, 13.Oktober, 09:12 Uhr anzeigen
Bravo - guter Kommentar.