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Tatort München: Charlie Drehbuchautorin Dagmar Gabler

Stand: 21.01.2025

Von links: Unter den COB beim Appell sieht man das Seitenprofil von Hauptkommissar Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Maximilian Frei (Lukas Turtur). | Bild: BR/Lucky Bird Pictures/Oliver Oppitz

Nachts wache ich von Schnarchen unter mir auf. Möglichst leise steige ich aus dem Etagenbett und gehe – in Stiefel und Parka – zum Dixi-Klo vor der Baracke. Draußen ist dichter Nebel – nein, kein Nebel – Rauch. Verbreitet von Rauch-Granaten. Langsam erkenne ich auch Gestalten: Mit mannshohen Stacheldraht-Spiralen riegeln sie unser Dorf ab, und ich verstehe: Wir werden gerade vom Feind eingenommen. "Endlich passiert mal was", denke ich nur, will ins Dixi – und sehe da erst den auf der Erde vor der Tür kauernden feindlichen Soldaten. Er ist klapperdürr, höchstens 18 und sichtlich fertig vom Biwakieren im Wald und dem Sturm auf uns. Er sieht andalusisch aus – in der Oberpfalz sinkt im Herbst die Temperatur nachts schon mal auf fast null Grad. "Oh Mann, Junge", denke ich mitleidig, "und das ist hier nur eine Übung." Sagen darf ich nichts zu ihm, ich lasse ihn liegen und gehe nach dem Dixi wieder in die Baracke.

Es ist das Jahr 2016, und ich bin ein NATO-Manöver lang "Civilian on the Battle Field". "COB"s sind Darsteller*innen von Zivilbevölkerung zum besseren Manöver-Training für Soldat*innen. Fast 400 Leute wurden dafür angeworben. Von 19 bis 75 Jahren sind alle Alter dabei – und zig Heimaten: München, Sachsen, Hamburg, Dortmund, Afghanistan, Korea, Armenien, Bahamas, Ghana – u. v. m. Wir sind in vier weit voneinander entfernten Dörfern untergebracht, die teils nur aus Fassaden bestehen, und agieren in unseren Rollen als Lehrerin, Händler, Bürgermeisterin, etc. in einem anfangs erläuterten Szenario: NATO-Einheiten müssen eine feindliche Invasion der fiktiven "Skolgans" aus dem Osten abwehren und verlorene Gebiete zurückerobern. Wie aktuell und real dieses Szenario sechs Jahre später wird, ahne ich damals nicht.

Den erbarmungswürdigen "Skolgan" vor dem Dixi habe ich noch heute vor Augen. Ebenso den jungen Fremdenlegionär, der mich den Tränen nah fragte, ob ich sein Gewehr gesehen hätte. Und die blonde Marines-Soldatin, deren Bazooka auf der Schulter in etwa ihrer Körpergröße entsprach …
Ich hatte aus Neugier und Abenteuerlust "beim Manöver angeheuert" und wurde mit solchen Begegnungen belohnt. Auch die Vielfältigkeit der COBs war bereichernd: Neben Abiturienten, pensionierten Beamten oder Künstlerinnen, die ihre Gagen aufbesserten, gab es Ex-Unternehmer, Ex-MIG-Piloten und NVA-Fallschirmspringer, Asylsuchende, Ehefrauen von Soldaten, u. v. m. Nicht wenige machten mehrere Manöver im Jahr, einige verdienten ihren ganzen Lebensunterhalt damit und zogen seit Jahren von Manöver zu Manöver. Das heißt: Um 5 Uhr aufstehen, Plumpsklo draußen, 5 Minuten Waschen und Zähneputzen im Dusch-Mobil, den ganzen Tag Bereitschaft und Arbeit ohne Privatsphäre, Armee-Nahrung, 22 Uhr Licht aus. Für 100 Euro am Tag. Wir simulierten Demonstrationen gegen Lebensmittelrationierung, wurden evakuiert – oder langweilten uns an Tagen ohne "Action". Einige durften sabotieren oder spionieren oder waren Polizistin wie ich. Alle waren genauso kaserniert wie die Soldat*innen: kein Kontakt zu den Liebsten, keine Waffen, Alkohol, Kameras, Computer, Handys – und keine Intimitäten. Paare wurden getrennt. Dieses "Detail" wurde später die Keimzelle zu Tatort: "Charlie".

Die militärische Seite des Manövers lernte ich erst während der Drehbuchentwicklung besser kennen. Mit Hilfe der US-Army würden wir bei laufendem Manöver "embedded" drehen können, und so war ich bei gezielten Recherchen querfeldein unterwegs im Humvee – mit Helm, US-Army-Captain, Produzent und Kameramann. Und dann allein und ohne Helm in den Orten ums Militär-Gelände herum, wo ich alte Biker, die trotz Verbot aufs Gelände fuhren, kennenlernte und Manöver-Spotter mit ihrem ganz eigenen Kosmos ...

Aber wozu das Ganze? Was treibt mich jenseits von Horizont-Erweiterung zu einem "Manöver-Tatort"? In Manövern wird Krieg geübt. Und wo Krieg keimt, geht es neben Geopolitik auch häufig um noch etwas anderes: Männerkörper über Frauenkörpern. Herrschaft über ein Land zu gewinnen, scheint einherzugehen mit der Herrschaft über dessen Frauen, Vergewaltigungen werden geduldet, oder sind sogar Strategie. Und auch wo Krieg nur geübt wird, finden sich nicht nur fitte Typen, Tugenden und Kameradschaft, sondern auch narzisstisch gekränkte Männer und ein offenbar nicht auszurottender Frauen-Hass – wichtige Motive in "Tatort: Charlie".

Frauenkörper wie mich treibt das natürlich um – und auf die Seite wehrhafter Frauen wie Mila oder Captain Miller in "Charlie", die – neben Manöver-Helden und Manöver-Spottern – für die Kommissare Leitmayr und Batic zur Herausforderung werden.


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