Tracks der Woche #42/16 Phantogram, Johnny Rakete, Saint feat. HB, The Lemon Twigs, Parcels
Die Tracks der Woche auf der Suche nach dem wahren Ich: Image-Wechsel, Piraten-Alter-Ego, Identifikation mit dem Label, sehr komplexe Persönlichkeiten und vermeintliche Bee-Gees-Kopien.
Phantogram – Calling All
Was haben Phantogram mit The Naked And Famous und Aurora gemeinsam? Sie teilen sich das Schicksal der Werbesong-Bands. Allerdings haben Phantogram - wie auch oben genannte Kollegen - längst bewiesen, dass sie mehr können als mit ihren Beats Rasierer zu verkaufen. Das New Yorker Duo macht schon seit Jahren großartigen Dreampop fernab des Mainstreams und hat erst dieses Jahr mit "You Don’t Get Me High Anymore" einen erstklassigen Ohrwurm abgeliefert. Ihrem verträumten Sound hört man den Einfluss von Szenegrößen wie den Cocteau Twins deutlich an, aber auf ihrem neuen Album "Three" schlagen Phantogram etwas andere Töne an. "Calling All" ist der letzte Song darauf und kommt ungewohnt angriffslustig daher. Gleich zu Beginn stöhnt Sängerin Sarah Barthel schrill ins Mikrofon und spätestens nach dem wiederholten Satz "we all got a little bit of hoe in us" ist klar: Die Zeiten der harmlosen Shoegazer sind vorbei. Die neuen Songs sind düsterer oder wie Barthel selbst sagt: "It’s a lot more fucking boombastic and heavy."
Johnny Rakete – Grand Line
Ihr müsst Johnny Raketes Aufruf, seinen Namen zu googeln, nicht nachkommen, denn hier kommt ein kurzer Überblick: Johnny Rakete, Rapper aus Fürth, rasiert seine Kollegen regelmäßig bei diversen Rap-Battles, hat seine meterlange Fransenmähne und Graskonsum zum Markenzeichen gemacht und vor kurzem sein viertes Mixtape "Peng Peng" rausgebracht. Auf genau diesem ist auch der neue Track "Grand Line" zu finden. Und warum macht der Rapper im Video mit Augenklappe und Papagei auf der Schulter einen auf Pirat? Weil die sogenannte Grand Line in der von Herrn Rakete sehr geschätzten Anime-Serie "One Piece" das gefährlichste Meer einer fiktiven Welt ist, auf dem sich die stärksten Piratencrews miteinander messen und um den Titel "König der Piraten" kämpfen. Und dieses schöne Bild lässt sich quasi eins zu eins auf die Deutschrap-Szene übertragen. Für seine Schatzsuche braucht Johnny Rakete allerdings keine Teufelsfrucht, sondern einfach nur seinen übermenschlichen Flow und einen guten Beat.
Saint – Holly
Es gibt diese Kämpfertypen. Die von der harten Sorte; die, die sich einfach immer weiter durchbeißen. Der Rapper Saint ist definitiv einer von ihnen. Mit gerade mal 15 Jahren ist er aus dem westafrikanischen Gambia nach Schweden geflohen, wo er jahrelang für sein Bleiberecht kämpfen musste. Drei Jahre später veröffentlichte er schon seine Debütsingle "Chillin'", mit der er ziemlich viel Staub aufwirbelt hat. Dieses Jahr ist seine LP "The New Funky Dread" erschienen, auf dem der Newcomer - wie der Albumname es schon andeutet - mit Funk und viel Retro-Charme überzeugt. Saint klingt zwar irgendwie nach 90er-Hip-Hop, aber eben trotzdem auch nach 2016. Der Name seines Labels "Today is Vintage" passt deshalb perfekt zu ihm und klingt gleichzeitig wie eine Kampfansage. Wenn das so weitergeht, ist Saint in fünf Jahren der neue Jay Z. Also am besten jetzt seine aktuelle Single "Holly" rauf und runter hören, ihn live beim Puls Festival sehen, um dann in fünf Jahren sagen zu können, dass die alten Sachen wie "Holly" noch viel funkiger waren und Saint danach nie wieder so smooth war. Die Chancen stehen aber gut, dass er auch in Zukunft noch grandiose Musik macht.
The Lemon Twigs – These Words
The Lemon Twigs sehen nicht nur aus wie aus einer anderen Zeit, sondern klingen auch so. Aus ihrer komplexen Single "These Words" hört man Queen, Supertramp und irgendwie auch David Bowie raus. Auch wenn die Band um die beiden Brüder Brian und Michael D‘Addario eine Ader für vergangene Zeiten hat, wünschen sie sich nicht unbedingt in die Vergangenheit zurück: "Die Glamourzeit der 80er lieben wir genauso wie die 70er. Trotzdem ist das Hier und Jetzt doch schon irgendwie sehr ok." Übrigens sind die beiden Jungs gerade mal 17 und 19 Jahre alt. Wie kann man in so einem Alter schon einen so eigenen Stil entwickeln? In einem Elternhaus wie dem der D'Addarios aufzuwachsen kann dabei natürlich helfen: Der Vater ist Studiomusiker - der Plattenspieler lief nonstop. Für ihr Debütalbum "Do Hollywood" haben sich die New Yorker übrigens noch Jonathan Rado von Foxygen als zusätzlichen Stilberater mit ins Boot geholt. Schon beim ersten Hören von "These Words" ist klar - die The Lemon Twigs haben etwas sehr Seltenes: Substanz.
Parcels – Myenemy
Beim Friseur haben sich die fünf Herren von Parcels garantiert nicht kennengelernt. Man ist geneigt, zu schreiben: Die 80er haben angerufen und wollen ihren Haarschnitt zurück – ist nur leider nicht mehr witzig. Die ersten Musiker mit Kelly-Family-Gedächtnisfrisuren und tanzbarem Sound sind sie ja auch nicht. Nicht nur optisch gibt es Parallelen zu den Bee Gees: Herkunft? Australien. Musikalisch? Funky Gitarren-Riffs und Disco-Atmosphäre. In ihrer aktuellen Single "Myenemy" grooven Parcels beatlastig zu der Frage, wie man Kämpfe mit sich selbst austrägt - "I would have never thought I’d be my enemy". Das Ganze klingt so gekonnt, dass man davon ausgeht, die fünf würden den Sound schon eine halbe Ewigkeit machen. Dabei steht für Anfang nächsten Jahres erst die Debüt-EP an. Das könnte also etwas Großes werden. Wer das jetzt schon mal live erleben will, dem empfehlen wir das Nürnberg.Pop Festival. Da geben sich die Australier, die es inzwischen nach Berlin verschlagen hat, nämlich die Ehre.