Beispiele für Überversorgung Choosing Wisely in Deutschland
Bestimmte Behandlungsmethoden und Diagnoseverfahren werden zu häufig eingesetzt und oft ohne Nutzen für den Patienten. Dazu gehören
- Antibiotika gegen Atemwegserkrankungen
- Entfernung der Mandeln
- Am Ende des Lebens: Lebensverlängernde Maßnahmen statt Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensqualität
- Früherkennung von Eierstockkrebs
Antibiotika bei akuter Bronchitis
Die meisten dieser Erkrankungen werden durch Viren hervorgerufen, gegen die Antibiotika nichts ausrichten. Trotzdem geben immer noch manche Ärzte bei akuter Bronchitis Antibiotika, obwohl Studien klar belegen, dass diese Behandlungsmethode nichts nützt. Eine Ausnahme bilden Patienten mit schwerer Lungenerkrankung (COPD).
"Ich mache Hausbesuche im ärztlichen Bereitschaftsdienst und treffe dabei regelmäßig Patienten mit akuter Bronchitis. Wenn ich ihnen erkläre, dass sie genauso schnell gesundwerden, wenn sie keine Antibiotika einnehmen und ihnen ein Merkblatt in die Hand drücke, wo sie das schwarz auf weiß nachlesen können, dann sind sie damit meist zufrieden. Viele wissen bereits, dass Antibiotika bei Erkältungskrankheiten überflüssig sind und freuen sich, wenn ich als Doktor ihnen das bestätige."
Prof. Dr. David Klemperer
Entfernung der Gaumenmandeln
Bereits in den 1920er Jahren wurde in einer britischen Studie nachgewiesen, dass bei Kindern zu häufig Mandeln entfernt werden; eine amerikanische Studie hat das 1982 bestätigt. Und in Deutschland hat der Faktencheck Gesundheit der Bertelsmann Stiftung große regionale Unterschiede festgestellt – in manchen Gegenden werden bis zu achtmal mehr Mandeln entfernt als in anderen.
Ob das zu viel oder zu wenig ist, kann man aus einem einfachen Grund nicht sagen: Ärzte wissen nichts über die langfristigen Auswirkungen dieser Operation, die über ein Jahr hinausgehen. Längerdauernde Studien wurden bis heute nicht durchgeführt.
Zwar wurde die Tonsillektomie – die vollständige Entfernung der Mandeln - durch die Tonsillotomie – einer teilweisen Entfernung - ersetzt, doch beide wurden nur miteinander verglichen, so dass man von beiden Methoden nicht weiß, ob und wie sie überhaupt langfristig nützen.
Lebensverlängernde Maßnahmen
Ein klassisches Beispiel für Überversorgung ist die Therapie von Patienten mit fortgeschrittenem Krebs, bei denen eine Heilung nicht möglich ist. In diesem Fall sollten Ärzte mit ihren Patienten explizit und offen die Ziele der Behandlung besprechen.
Lebenszeit vs. Lebensqualität
Zu unterscheiden sind die Ziele Lebenszeit und Lebensqualität. Vor die Wahl gestellt, würden sich viele Patienten für die Lebensqualität entscheiden, anstelle angesichts stark belastender Therapien, die häufig nur wenig zusätzliche Lebenszeit versprechen. Doch leider legen Ärzte diese Entscheidungsmöglichkeiten den Patienten gegenüber nicht oder nicht klar genug dar. Studien haben gezeigt, dass die meisten Patienten alle Informationen zu ihrer Krebskrankheit erhalten möchten. Trotzdem wissen viele noch nicht einmal, ob das Ziel der Therapie Heilung oder (nur) Lebenszeitverlängerung lautet.
"Ärzte sind dazu erzogen, Krankheiten zu behandeln. Dies kann sie dazu verleiten, Maßnahmen gegen einen Tumor zu empfehlen, auch wenn dies nicht mehr sinnvoll ist. Für Patienten ist es jedoch enorm hilfreich, wenn ein Arzt sagt: 'Das Ziel unserer Therapie ist Ihre Lebensqualität. Wir werden alles tun, damit sie den Rest Ihres Lebens so gut wie möglich verbringen.' Hier hat die Medizin großartige Möglichkeiten und für schwer kranke Patienten und ihre Angehörigen ist dies hilfreich und tröstlich."
Prof. Dr. David Klemperer
Früherkennung von Eierstockkrebs
Eine aktuelle Leitlinie rät von der Früherkennung von Eierstockkrebs ab, weil die Früherkennung das Überleben nicht verbessert. Die transvaginale Ultraschalluntersuchung gibt Hinweise darauf, dass ein Tumor vorliegen könnte. Die Diagnose kann aber erst im Rahmen einer Operation gestellt werden. Die meisten Verdachtsfälle werden im Rahmen der Operation nicht bestätigt ("falscher Alarm", falsch-positiver Befund), was mit überflüssigen Operationsrisiken einhergeht.
Hinzukommt, dass nicht jeder gefundene Tumor ein Problem geworden wäre, weil manche Tumoren im Wachstum stehenbleiben oder sich sogar zurückentwickeln.
Trotzdem empfehlen viele Gynäkologen noch immer ihren Patientinnen eine Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung als private IGe-Leistung; sie ist mit zwei Millionen Diagnosen die zweithäufigste IGe-Leistung. Eine Befragung amerikanischer Gynäkologen zeigte, dass diese die Evidenz schlicht nicht zur Kenntnis nahmen und den Nutzen dieser Früherkennung überschätzten und den Schaden unterschätzten. Dies dürfte auch in Deutschland der Fall sein. Auch dürften finanzielle Anreize eine Rolle spielen.
Hier müssten nach Überzeugung von Prof. Klemperer die Ärztekammern einschreiten, die vom Staat die Aufgabe erhalten haben, die Aufsicht über die Berufsausübung der Ärzte zu führen.