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Mikrobiom Der Mikrokosmos im Darm

In unserem Verdauungstrakt leben Milliarden kleinster Mikroorganismen, in der Fachsprache spricht man nur vom Mikrobiom. Es ist lebenswichtig, hilft uns beim Verdauen und bildet eine Vielzahl wichtiger Botenstoffe.

Von: Moritz Pompl

Stand: 15.07.2024

Im Darm gibt es viele Bakterien. Der persönliche Fingerabdruck des Darms hängt auch von der Ernährung ab. Im Bild: Die elektronenmikroskopische Aufnahme von EHEC-Bakterien, einer gefährlichen Variante des harmlosen Darmbewohners Escherichia coli. | Bild: picture-alliance/dpa

In unserem Verdauungstrakt leben Milliarden kleinster Mikroorganismen, ohne die wir Menschen nicht lebensfähig wären – das sogenannte Mikrobiom.

Experte:

Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. André Gessner, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene, Regensburg

Es hilft uns nicht nur beim verdauen, sondern bildet auch eine Vielzahl wichtiger Botenstoffe. Die entscheiden darüber mit, ob wir zu dick werden oder Diabetes bekommen, wie viel wir von einem Medikament brauchen, oder sogar, wie viele Botenstoffe unser Gehirn abbekommt. Kurzum: Das Mikrobiom ist maßgeblich für unsere Gesundheit verantwortlich. Gerät es aus den Fugen, können wir leicht krank werden.

Der Text beruht auf einem Interview von Moritz Pompl mit Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. André Gessner, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene in Regensburg.

Die Mehrzahl aller Zellen in uns sind Bakterien. Sie bilden, zusammen mit anderen Mikroorganismen, das Mikrobiom: Einen Superorganismus, der unser Überleben sichert – und der stark von unserem Lebensstil abhängt.

Wenn jemand an die Organe des Menschen denkt, dann kommen ihm vermutlich recht schnell die Nieren, das Herz, oder die Leber in den Sinn. Aber das Mikrobiom? Ein Organ? In der Tat, manche Wissenschaftler bezeichnen es sogar als "Super-Organ" oder "Super-Organismus", also als eine Art übergeordneten, festen und überaus wichtigen Bestandteil menschlichen Lebens.

Es besteht aus allen Mikroorganismen, die in unserem Darm leben (das, was landläufig auch Darmflora genannt wird), aber auch auf der Haut und den Schleimhäuten, etwa in Mund, Rachen, Nase und Genitalien.

Mindestens genauso viele Bakterien wie menschliche Zellen im Köper

Die Zahlen des Mikrobioms sind beeindruckend: Die Zahl der Bakterien im  im menschlichen Körper ist mindestens so hoch wie die der menschlichen Zellen! Mikroskopisch betrachtet sind wir Menschen also eher eine Lebensgemeinschaft  aus kleinsten Organismen mit vergleichbar vielen menschlichen Zellen.

"Wenn uns ein außerirdisches Wesen beurteilen würde, würde es sagen: Da sind einige Zellen, die sehen alle sehr ähnlich aus – aber eigentlich viel viel mehr andere, ganz verschiedene Lebensformen, die zahlenmäßig deutlich überwiegen. Das ist ein merkwürdiges Gebilde."

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Warum wir – zumindest für terrestrische Wesen – trotzdem wie ein Mensch aussehen? Ganz einfach: Weil unsere körpereigenen Zellen viel größer sind als ein Bakterium. Das Darm-Mikrobiom bringt aber immerhin mehrere hundert Gramm auf die Waage – pro Mensch. In einem Milliliter Darminhalt befinden sich rund bis zu 1.000.000.000.000 Bakterien, also eine Billion!

"Zusätzlich gibt es noch die vielen Viren, die ganz normal in uns leben – die gehen zahlenmäßig noch weit darüber hinaus. Und dann gibt es noch Pilze, Würmer und die sogenannten Archäen, die den Bakterien ähneln, aber eine eigene Gruppe darstellen."

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Viele der Mikroorganismen sind noch nicht identifiziert, Forscher gehen aber davon aus, dass es weit mehr als 1.000 verschiedene sind, die auf und in uns leben. Und: dass sie sich in ihrer Zusammensetzung in jedem von uns unterscheiden. Jeder Mensch hat sozusagen seinen eigenen Darmflora-Fingerabdruck – auch wenn es natürlich Mikroorganismen gibt, die in jedem von uns vorhanden sind – E.coli-Bakterien zum Beispiel.

Das Mikrobiom ist nicht überall gleich dicht

Besonders viele Mikroorganismen leben im unteren Dünn- und im Dickdarm – das zeigt sich auch beim Stuhlgang, der zu rund einem Drittel aus Bakterien besteht. Weit weniger Kleinstlebewesen sind es im Magen und im oberen Dünndarm, weil hier die Magensäure so gut wie alle Keime abtötet, die mit der Nahrung in den Körper gelangen, und die Gallensäuren zusätzlich gegen die Bakterien wirken. Nur der berühmt-berüchtigte Helicobacter pylori hat sich an das saure Magenmilieu angepasst und lebt allein auf weiter Flur in den Zotten der Magenschleimhaut.

Entscheidend sind Geburt und Lebensstil

Übrigens entwickelt sich unser Mikrobiom bereits in den ersten Lebenstagen. Entscheidend dabei ist der Geburtsvorgang, bei dem das Neugeborene mit der Vaginalschleimhaut der Mutter in Kontakt kommt und die ersten Bakterien aufnimmt. Kinder, die mit einem Kaiserschnitt auf die Welt kommen, haben zwar keinen Kontakt mit dem Geburtskanal, aber die wichtigen Bakterien befinden sich auch auf der Haut der Mutter. Stillen trägt ebenfalls zur Entwicklung eines gesunden Mikrobioms bei. Später sind es dann verschiedene andere Quellen aus der Umwelt, in denen die Mikroorganismen für unsere Darmflora stecken – in erster Linie die Nahrung. Unser Lebensstil ist also entscheidend dafür, wie sich das Mikrobiom im Laufe des Lebens verändert. So kann das eines Mexikaners, der sich scharf und Mais-lastig ernährt, völlig anders aussehen als das eines Nordseebewohners, der sich vielleicht hauptsächlich von Fisch ernährt.

"Bei manchen Stämmen in Afrika, die ausschließlich als Jäger und Sammler leben, setzt sich das Mikrobiom wieder ganz anders zusammen als bei einem Mitteleuropäer. Es hängt also sehr davon ab, wie die Menschen leben und wie sie sich ernähren, ob sie jemals Antibiotika genommen haben. Und letztlich auch davon, wie die Gene des Menschen sind."

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Außerdem verändert sich das Mikrobiom, wenn jemand beispielsweise aus Deutschland nach Asien zieht. Das wissen Forscher übrigens deshalb, weil sie seit einigen Jahren in vielen Studien das Mikrobiom im Menschen genau untersuchen. Sie analysieren dabei die Gene der Mikroorganismen, die sie aus verschiedenen Abstrichen ihrer Probanden gewinnen – letztlich mit dem Ziel, genau herauszufinden, welche Mikroorganismen möglicherweise mit welchen Erkrankungen zusammenhängen.

Stellen Sie sich vor, Sie haben Zwillinge. Eines der Kinder stecken sie zum Spielen auf den nächsten Bauernhof, wo es im Heu liegen und Katzen streicheln oder Kühe füttern darf. Das zweite Kind spielt immer zuhause in der Großstadt-Wohnung. Jahre später stellen Sie fest, dass das "Großstadt-Kind" an Asthma leidet, eine Neurodermitis bekommt oder vielleicht sogar eine Blutzucker-Krankheit entwickelt, während das "Bauernhof-Kind" kerngesund ist. Zufall?

Nicht, wenn es nach zahlreichen wissenschaftlichen Erkenntnissen geht, die die sogenannte Hygiene-Hypothese untermauern. Sie besagt: Je besser sich unser Immunsystem mit "Schmutz" oder "Keimen" auseinandersetzen darf, desto besser reift es. Im Klartext: Das "Bauernhof-Kind“ hat tatsächlich ein geringeres Risiko für allergische Erkrankungen oder Autoimmunleiden als eines, das "zu" sauber lebt. Und selbst für Krankheiten, für die ganz verschiedene Ursachen diskutiert werden - etwa Typ I Diabetes – erhärtet sich der Verdacht, dass ein Zusammenhang mit übertriebener Hygiene besteht.

Nicht jede Wurmerkrankung ist ungesund

All das wiederum hängt unmittelbar mit dem Mikrobiom zusammen. Denn die Keime vom Bauernhof gelangen auch in den Darm und stimulieren dort die Lymphknoten in der Schleimhaut. Erst Das unterstützt die Entwicklung der körpereigenen Abwehr. Übrigens gilt das nicht nur für Bakterien, sondern insbesondere auch für Würmer: Die können über bestimmte Botenstoffe das Immunsystem „umdirigieren“ und so etwa eine Asthma-Erkrankung abmildern. Das heißt nicht, dass jede Wurmbesiedelung automatisch gesund ist, aber manche sind eben auch nicht von vornherein zu verteufeln.

"Früher haben ja unsere Omas immer gesagt, man soll ruhig mal Dreck essen. Die moderne Mikrobiom-Forschung würde da noch hinzufügen: Es muss aber der richtige sein."

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Ohne funktionierendes Mikrobiom drohen Nahrungsmittelallergien

Bei allergischen Kindern übrigens finden die Forscher häufig eine veränderte Darmflora, die das Immunsystem vermutlich nur unzureichend anspornt. Und bei Mäusen konnten Wissenschaftler Nahrungsmittelallergien auslösen, wenn sie ihnen nach der Geburt Antibiotika gaben und damit die natürliche bakterielle Besiedlung des Darmes verhinderten.

Für den gesamten Stoffwechsel entscheidend

Das Mikrobiom hängt aber nicht nur mit Allergien oder Autoimmunerkrankungen zusammen, sondern es bestimmt auch über eine ausreichende Vitamin-Versorgung des Körpers. Bestimmte Darmbakterien nämlich produzieren Vitamin K, und das ist unter anderem lebenswichtig für eine gesunde Blutgerinnung. Außerdem produziert das Mikrobiom eine ganze Reihe an Enzymen, die in unterschiedlichster Weise auf den Körper wirken. Manche davon sind zum Beispiel an der Verdauung beteiligt und sorgen dafür, dass der Nahrung besonders viel Energie entlockt werden kann. Eigentlich ideal, allerdings kann das zu einer massiven Gewichtszunahme führen, weil der Betroffene nicht zwangsweise weniger isst oder sich intensiver bewegt – obwohl das völlig ausreichend wäre.

"Man wird nicht nur dick, weil man die falschen Bakterien hat, sondern man muss schon auch zu viel essen."

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Hier gibt es übrigens Parallelen zur Tiermast: Früher war es erlaubt,  Schweinen oder anderen Nutztieren Antibiotika zu geben, damit sie schneller an Gewicht zulegen. Das funktioniert, indem die Antibiotika bestimmte Bakterien abtöten und so Platz schaffen für genau die Bakterien, die bei der verstärkten Verdauung und besserer Nahrungsverwertung helfen. Seit 2006 ist das in der EU offiziell verboten.

"Das sahen wir Mediziner natürlich gar nicht gern, weil dadurch resistente Bakterien entstanden sind. Für die Medizin hat das riesige Konsequenzen – weil uns dann im Zweifel die Antibiotika ausgehen und zusätzlich das Mikrobiom vieler Patientinnen und Patienten geschädigt wird."

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Andere Bakterien-Enzyme im Darm aktivieren bestimmte Medikamente, die sonst unwirksam wären – etwa Östrogene oder bestimmte Herzmedikamente wie Digitalis. Allerdings gibt es auch den gegenteiligen Fall, also, dass Bakterien Arzneimittel deaktivieren. Wieder andere Enzyme des Mikrobioms sind an der Produktion von Botenstoffen für das Nervensystem beteiligt, beeinflussen also direkt unser Gehirn. Studien haben z.B. gezeigt, dass sich das Mikrobiom von Menschen, die unter Depression oder Autismus leiden, von den Darmbakterien gesunder Menschen unterscheidet. Das ist zwar noch kein Beleg für einen Zusammenhang, aber Mediziner forschen inzwischen intensiv an den Verbindungen zwischen Gehirn und Mikrobiom – auch wenn hier noch vieles unklar ist.

So gut wie jede Antibiotika-Therapie verändert auch unser Mikrobiom. Meistens sind es harmlose Verschiebungen in der Zusammensetzung nur für kurze Zeit, die aber im Extremfall sogar tödlich sein können. Der Grund: Vor allem Breitspektrum-Antibiotika wie Ampicillin oder Cephalosporine töten eine ganze Reihe an Bakterien im Darm ab. Keime, gegen die sie nicht wirken, bekommen dann auf einmal die Gelegenheit, sich großflächig auszubreiten und eine Menge Unheil anzurichten.

Ein solcher Keim ist das Bakterium Clostridium difficile, das bei rund fünf Prozent aller Menschen als normaler Keim im Darm vorkommt und in geringer Anzahl unschädlich ist. Nimmt es bei einer längeren Antibiotika-Therapie überhand, dann kann es im großen Stil Giftstoffe aussondern und zu einer heftigen Darmentzündung führen, der sogenannten pseudomembranösen Kolitis. Dabei kommt es zu Fieber, starken Bauchschmerzen und schwerem Durchfall.

"Im schlimmsten Fall kann die Entzündung die Darmwand angreifen und sogar durchbrechen, sodass sich das Bauchfell entzündet und es zu einer Sepsis, also einer lebensgefährlichen 'Blutvergiftung' kommt."

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Was gegen die pseudomembranöse Kolitis helfen kann, sind wiederum spezielle Antibiotika gegen Clostridium difficile.

Auch das Mikrobiom selbst kann gefährlich werden

Abgesehen von der pseudomembranösen Kolitis kann das Mikrobiom auch bei anderen Erkrankungen zur Gefahr werden. Bei einer Leberzirrhose etwa, die im Rahmen einer Alkoholsucht entstehen kann, ist die Leber nicht mehr in der Lage, ausreichend Ammoniak abzubauen. Genau das aber wird durch bestimmte Bakterien in der Darmflora produziert. Kommt die Leber nicht mehr hinterher, dann häuft sich das Ammoniak im Blut an und gelangt unter anderem auch ins Gehirn. Dort kann es dazu führen, dass der Betroffene schläfrig oder sogar bewusstlos wird. Die Ärzte tendieren dann - abgesehen von der Notfallbehandlung - dazu, die Ammoniak-bildenden Bakterien im Mikrobiom zurückzudrängen – durch gezielte Antibiotika und einen speziellen Zucker, der andere Bakterien-Arten schneller wachsen lässt.

Bei AIDS werden harmlose Keime schädlich

Auch bei einer Immunschwäche, etwa im Rahmen einer Chemotherapie oder einer AIDS-Erkrankung, kann das Mikrobiom zur Gefahr werden. Plötzlich werden Keime schadhaft, die vorher keine Bedrohung waren. So können sich beispielsweise Pilze im Genitalbereich oder auch im Mund ausbreiten und schmerzhafte Entzündungen hervorrufen. Zur Behandlung stehen dann Anti-Pilz-Mittel zur Verfügung.

Ist das Mikrobiom im Darm etwa durch eine Antibiotika-Therapie durcheinandergeraten, dann baut es sich in der Regel von alleine wieder auf – allein durch eine gesunde Ernährung. Zusätzlich können aber sogenannte Probiotika sinnvoll sein. Das sind Kapseln mit Bakterien, die sich dann im Darm ansiedeln können.

Die Kapseln sind widerstandsfähig gegen den Magensaft und lösen sich erst im Darm auf, wo ihnen die Säure nichts mehr anhaben kann. Fraglich hingegen sind etwa probiotische Joghurts. Die nämlich bieten den Bakterien, die darin schwimmen, keinen Schutz – und vermutlich werden die allermeisten von ihnen durch die Magensäure abgetötet, bevor sie überhaupt im Darm ankommen.

Im Zweifel eine "Stuhltransplantation"

Lässt sich eine pseudomembranöse Kolitis, also eine Durchfallerkrankung nach Antibiotika-Therapie, nicht in den Griff bekommen, dann kann im Zweifel eine sogenannte "Stuhltransplantation" helfen – oder, schöner ausgedrückt, eine "Mikrobiota-Transplantation". Sie hat zum Ziel, wieder eine normale Darmflora aufzubauen.

"Der Erfolg dieser Therapie liegt bei 95 Prozent, sie sollte allerdings nicht unkritisch und nur von Fachleuten durchgeführt werden. Es wurde kürzlich sogar in den USA von einem Todesfall durch einen Stuhltransfer berichtet."

Prof. Dr. Dr. André Gessner

Dabei wird von einem Spender, der wie ein Blutspender auf verschiedene Erkrankungen hin untersucht wird, eine Kotprobe genommen und in eine Zentrifuge gesteckt. So werden die Bakterien von den restlichen Bestandteilen getrennt und dem Patienten anschließend in einer Kochsalzlösung über eine Nasensonde, ein Darmrohr oder in Kapseln eingeschlossen in den Darm „transplantiert“ werden. Was etwas eklig klingt, kann Leben retten – weil im Zweifel nur so wieder ein funktionstüchtiges Mikrobiom entstehen kann. Und das ist nun mal für jeden von uns von essentieller Bedeutung.

Die zukünftige Forschung verspricht übrigens spannend zu bleiben. Denn die allermeisten Zusammenhänge zwischen dem Mikrobiom und unserer Gesundheit sind noch völlig ungeklärt.

"Es ist wirklich ein explodierendes Forschungsfeld, das mittlerweile alle Bereiche der Medizin betrifft."

Prof. Dr. Dr. André Gessner