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Angst vor jedem Bissen Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Reizdarm

Ein Reizdarm plagt viele Patienten, aber er bleibt ein Mysterium, denn die Ursache für dieses Krankheitsbild kennt man immer noch nicht genau. Erbliche Faktoren spielen eine Rolle, aber auch beispielsweise eine veränderte Darmflora.

Von: Uli Hesse

Stand: 09.01.2023

Symbolbild: Frau fasst sich an den Bauch, der schematisch rot eingefärbt ist. | Bild: picture-alliance/dpa

Ein Reizdarm plagt viele Patienten, aber er bleibt ein Mysterium, denn die Ursache für dieses Krankheitsbild kennt man immer noch nicht. Erbliche Faktoren spielen eine Rolle, aber auch beispielsweise eine veränderte Darmflora. Studien haben herausgefunden, dass die Durchlässigkeit der Darmschleimhaut, die Peristaltik und Sekretion des Darms bei Reizdarm-Patienten im Vergleich zur Normalbevölkerung erhöht sind. Aber die Ursache dafür ist unklar.

Expertin:

PD Dr. med. Helga Török, Leiterin der Ambulanz für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Medizinische Klinik und Poliklinik 2, Klinikum der Universität München

Reizdarm-Patienten leiden sehr unter ihren Beschwerden. Dazu gehören Blähungen, Bauchschmerzen, Verstopfung oder Durchfall. Doch erst, wenn andere Diagnosen ausgeschlossen wurden, kann man die Diagnose  Reizdarm stellen und eine Behandlung einleiten. Allerdings werden dabei meist nur die Symptome – nicht die Ursachen angegangen. Häufig haben Reizdarm-Patienten Depressionen oder Angststörungen, die ebenfalls der Behandlung bedürfen. Einheitliche Ernährungsempfehlungen gibt es nicht, aber einige Ansätze: Oft muss jeder Patient mit seinem Arzt individuell jedoch ausprobieren, ob und auf welche Lebensmittel er besser verzichtet.

Dem Text liegt ein Interview mit PD Dr. med. Helga Török, Leiterin der Ambulanz für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Medizinische Klinik und Poliklinik 2, Klinikum der Universität München, zugrunde.

Ein Reizdarm wird diagnostiziert, wenn eine bestimmte Beschwerdekonstellation vorliegt und andere, schwere Erkrankungen, welche für diese Symptome verantwortlich sein könnten, ausgeschlossen worden sind.

Beschwerden wie Blähungen, Verstopfung, Bauchschmerzen und Durchfall können alle auf einen Reizdarm hindeuten. Die Diagnose kann nur durch einen Arzt - am besten einen Gastroenterologen - gestellt werden. Nahrungsmittelunverträglichkeiten, aber auch z. B. Infektionen und gefährliche Krankheiten müssen ausgeschlossen werden; bei Erwachsenen ist dafür eine Darmspiegelung notwendig.

Beschwerden

Typische Symptome sind Blähungen, Bauchschmerzen und Stuhlgangveränderungen – Durchfall oder Verstopfung, oder beides abwechselnd. Diese Beschwerden müssen mindestens über drei Monate vorhanden sein, um überhaupt die Diagnose Reizdarm in Betracht zu ziehen.

Hausarzt oder Gastroenterologe?

Der erste Weg kann zum Hausarzt führen, aber spätestens, wenn andere Erkrankungen wie z. B. eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung ausgeschlossen werden soll – und beim Erwachsenen gehört eine Darmspiegelung dazu – ist ein Besuch beim Gastroenterologen notwendig.

Ausschlussdiagnose Nahrungsmittelunverträglichkeit

Die Symptome bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten und beim Reizdarm ähneln sich; daher müssen beispielsweise eine echte Glutenunverträglichkeit (Zöliakie), sowie eine Fruktose- und Laktose-Malabsorption ausgeschlossen werden. Sie lassen sich durch Tests nachweisen. Ergeben diese Tests nichts, kann der Patient trotzdem die Nahrungsmittel, mit denen er die Beschwerden in Verbindung bringt, zunächst einmal versuchsweise weglassen. Manchmal ergibt sich dadurch schon eine Besserung. Wichtig hierbei ist, keine Weglass-Diät vor einer genauen Diagnose anzufangen, da hierdurch die Tests und die Diagnosestellung (z. B. für Zöliakie) nicht mehr möglich ist.

Ausschlussdiagnose gefährliche Krankheiten

Außerdem müssen andere, womöglich bedrohliche, Erkrankungen mit demselben Beschwerdebild ausgeschlossen werden. Dazu gehören die chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa, der Darmkrebs aber auch Erkrankungen aus dem gynäkologischen Bereich wie Eierstockkrebs. 80 Prozent aller Patientinnen mit Ovarialkarzinome weisen vor der Diagnose Beschwerden wie unspezifische Bauchschmerzen auf.

Untersuchungen

Es gibt eine obligate Grunddiagnostik, welche eine Erhebung der Krankengeschichte, eine körperliche Untersuchung, Labordiagnostik, eine abdominelle Ultraschalluntersuchung und bei Frauen auch eine frauenärztliche Untersuchung beinhaltet. Gibt es keinen Hinweis auf eine andere zugrundeliegende Erkrankung, kann der Arzt wenn keine Allarmsymptome (Gewichtsverlust, Blut im Stuhl) und keine Diarrhoen vorliegen, mit einer probatorischen (also versuchsweise durchgeführten) Therapie beginnen. Das bedeutet aber nicht, dass ein Reizdarm damit hundertprozentig diagnostiziert ist.
Die wichtigste Untersuchung zur Diagnosesicherung bzw. zum Ausschluss anderer Erkrankungen ist bei Erwachsenen die Darmspiegelung. Bei Durchfall kommt dazu eine Probenentnahme aus dem Darm.

Neu: Die konfokale Endoskopie

Eine Arbeitsgruppe an der Universität in Kiel benutzte ein Endomikroskop, um Lösungen der vier häufigsten unverträglichen Nahrungsmittel - Weizen, Kuhmilch, Soja und Hefe - direkt auf die Darmschleimhaut zu träufeln und die Reaktion der Schleimhaut darauf zu beobachten. Gluten scheint demnach bei vielen Reizdarmpatienten ein Auslöser zu sein, und mehrere der Studienteilnehmer konnten durch eine glutenfreien Diät ihre Beschwerden reduzieren. Mittlerweile konnten auch andere Studien durch konfokale Endoskopie eine Reaktion auf Nahrungsmittelallergenen bei mehr als die Hälfte der Reizdarmpatienten nachweisen. Dabei kommt es nach dem Kontakt mit dem Allergen zu einer Störung der Darmbarriere und ein Einschwämmen von Entzündungszellen in die Darmschleimhaut.

"Ich sehe nicht, dass alle Reizdarm-Patienten eine konfokale Endoskopie erhalten. Es wird denen vorbehalten bleiben, bei denen die Beschwerden sehr ausgeprägt sind und gängige Therapieansätze bisher vergeblich waren."

Dr. Helga Török

Beim Reizdarm lassen sich nur die Beschwerden behandeln, nicht die Ursache – weil sie unbekannt ist. Es gibt keinen Standard für die symptombezogene Therapie, sondern sie wird individuell an den Patienten angepasst.

"Wenn der Patient eher unter Blähungen leidet, gebe ich eventuell etwas Anderes, als wenn er unter Durchfällen oder Verstopfung leidet."

Dr. Helga Török

Der Gastroenterologe testet einen Behandlungsansatz, und wenn es nach spätestens drei Monaten nicht anschlägt, wechselt er das Mittel oder gibt zusätzlich ein anderes dazu.

Beschwerden managen, statt Ursachen heilen

Reizdarm lässt sich nicht ursächlich heilen, aber es kann eine Beschwerdefreiheit erreicht werden. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass Patienten bis zu ihrem Lebensende bestimmte Medikamente nehmen müssen oder bestimmte Nahrungsmittel weglassen müssen. Wenn ein bestimmtes Medikament hilft, kann man nach einiger Zeit versuchen, es langsam auszuschleichen.

"Weil die Ursachen der Beschwerden unklar sind, könnten sie auch von etwas ganz Anderem im Umfeld oder im Leben des Patienten hervorgerufen worden sein. Vielleicht hat sich das geändert, so dass das Medikament gar nicht mehr notwendig ist."

Dr. Helga Török

Medikamente und alternative Therapien

Bei den meisten Symptomen – von Verstopfung über Blähungen bis hin zu Bauchschmerzen und Durchfall – können lösliche Ballaststoffe eingesetzt werden, die den Stuhlgang regulieren. Krampflösende Mittel helfen bei Bauchschmerzen und Blähungen; Abführmittel bei Verstopfungen. Um die Darmflora zu verändern, werden probiotische Zusammensetzungen eingesetzt, wobei es keinen Bakterienstamm gibt, der bei allen Beschwerden hilft. Bei Schmerzen können neben Ballaststoffen und krampflösenden Mitteln auch Antidepressiva eingesetzt werden, selbst wenn keine Depression zugrunde liegt.

Behandlungsdauer

Wie lange es dauert, bis ein Medikament anschlägt, ist sehr unterschiedlich. Wer unter Bauchschmerzen und -krämpfen leidet, dem kann ein Spasmolytikum, also ein krampflösendes Mittel, innerhalb von einer Stunde helfen. Wer lösliche Ballaststoffe nimmt – z. B. Flohsamen, also die Samenschalen vom Strauchwegerich – sollte frühestens nach ein paar Tagen mit einer Linderung rechnen.

"Patienten sollten Flohsamen mindestens zwei bis drei Wochen nehmen, bevor eine Wirkung eintritt. Falls es nach drei Monaten immer noch nicht hilft, sollte man eine Alternative erwägen."

Dr. Helga Török

Reizdarm-Patienten leiden sehr unter ihren Beschwerden und fühlen sich in ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigt – zum Teil stärker als Menschen mit solch schwerwiegenden Erkrankungen wie Niereninsuffizienz oder Diabetes Mellitus Typ 2. Eine psychische Komorbidität wie Depressionen und Angststörungen sollte diagnostiziert und gezielt behandelt werden.

Psyche und Reizdarm

Je nach Studie schätzt man, dass 20 bis 50 Prozent aller Reizdarm-Patienten an einer Depression oder Angststörung leiden. Das bedeutet auch, dass Depressive oder Angst-Patienten eher über die Beschwerden eines Reizdarms klagen.

Ein eindeutiger kausaler Zusammenhang mit dem Stress konnte nicht belegt werden. Jedoch konnten einige Studien zeigen, dass sich die Prognose für den Reizdarm bei anhaltendem Lebensstress verschlechtert. Warum das so ist, weiß man nicht.

Ganzheitliche Behandlung

Psychologische Unterstützung als Teil der Behandlung ist notwendig, weil sich die Mehrheit der Patienten beträchtlich in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt fühlt. Das kann von Elementen der Gesprächstherapie beim Hausarzt bis hin zur psychiatrischen Behandlung reichen, falls eine Depression oder Angststörung diagnostiziert wurde.

"Wenn Reizdarmpatienten über ihre Beschwerden berichten, sprechen sie ausführlicher über ihre Empfindungen als die Normalbevölkerung. Aber es gibt keinen Beschwerdetyp bei dem ich automatisch eine Komorbidität wie Depression oder Angststörung erwarte."

Dr. Helga Török

Zu den wichtigsten Prognosefaktoren für den Verlauf der Krankheit zählt eine frühe Diagnose und eine beidseitig positive Arzt-Patienten-Beziehung. Dadurch werden Arzt-Odysseen – wie sie häufig bei Reizdarm-Patienten vorkommen – vermieden.

Frühzeitige Diagnose

Je früher ein Reizdarm erkannt wird, umso besser die Prognose der Erkrankung. Ein Reizdarm mit langer Vorgeschichte hat eine schlechtere Prognose als ein Reizdarm, bei dem die Beschwerden noch nicht so lange bestehen. Chronische Beschwerden sind jedoch bei über 50 Prozent der Patienten zu erwarten.

Der Reizdarm ist nicht mit anderen schwerwiegenden Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts assoziiert, jedoch haben Reizdarm-Patienten ein höheres Risiko, eine Gallenblasen- oder Blinddarm-Operation zu erhalten und werden häufiger auch am Unterleib operiert.

Positive Arzt-Patienten-Beziehung

Für beide Seiten ist zunächst wichtig, dass bedrohliche Erkrankungen wie Krebs oder chronisch-entzündliche Darmerkrankungen ausgeschlossen werden. Dabei ist es wichtig, dass der Arzt dem Patienten glaubhaft vermittelt, dass diese Erkrankungen gezielt ausgeschlossen wurden, und dass dies nicht ein drittes, viertes oder fünftes Mal überprüft werden muss. Denn hat der Patient das Gefühl, nicht ernstgenommen zu werden, wird er einen Arzt nach dem anderen konsultieren – und das passiert beim Reizdarm nicht selten.

Bei nachgewiesener Nahrungsmittelunverträglichkeiten wie Milchzucker und Fruktose soll eine an diesem Zucker arme Kost verzehrt werden. Auch wenn solche bestimmten Nahrungsmittelunverträglichkeiten ausgeschlossen worden sind, sollten Ärzte nachfragen, ob Patienten Beschwerden auf bestimmte Lebensmittel zurückführen. Sie können dann gezielt versuchen, diese wegzulassen. Nur, wenn die Weglass-Diät erfolgreich ist, sollte diese unter ärztlicher Mitbegleitung fortgeführt werden, um etwaige Mangelzustände zu vermeiden.

FODMAP-Diät

Reizdarm-Patienten kann sie helfen, die sogenannte FODMAP-Diät. FODMAP steht für Fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide And (und) Polyole. Diese fermentierbaren Kohlenhydrate werden im Dünndarm unter Umständen schlecht abgebaut. Gelangen sie in den Dickdarm, werden sie hier von Bakterien abgebaut: Es kommt zur Gasbildung mit Durchfall, Blähungen und Bauchschmerzen. Durch Weglassen von Lebensmitteln mit hohem FODMAP-Gehalt kann getestet werden, ob eine Empfindlichkeit vorliegt. Dazu gehören bestimmte Obst- und Gemüsesorten, Hülsenfrüchte, glutenhaltige Lebensmittel, manche Süßungsmittel und viele Milchprodukte.

Gluten reduzieren

Reizdarm-Patienten profitieren manchmal auch davon, versuchsweise weniger Gluten zu sich zu nehmen. Durch Weglassen von Weizen beispielsweise essen sie automatisch weniger FODMAP-Lebensmittel. Wenn das hilft, kann man schrittweise einzelne Lebensmittel probeweise wiedereinführen. Wichtig ist es dabei im Voraus eine echte Glutenunverträglichkeit (Zöliake) auszuschließen.