Bayern 2 - Hörspiel

100 aus 100: Die Juni-Staffel Von "Centropolis" bis "Totentanz"

Es wird gruselig, düster - und berührend. Wir reisen nach "Centropolis", in ein fiktives New York voller korrupter Polizisten. In "Totentanz" begleiten wir den Sensemann, der sich als unscheinbarer Passant verkleidet. Und Schorsch Kamerun fragt, ob Menschen noch nach Wünschen handeln oder nur auf Angebote reagieren.

Stand: 21.06.2024 | Archiv

das gras wies wächst, Episodenbild 4, Junistaffel | Bild: BR

1948: Während der Stromsperre

Im Dunkeln sitzend erzählt Auguste während einer Stromsperre ihrer Enkelin Christel aus ihrem Leben und beleuchtet das Schicksal von drei Generationen einer Berliner Arbeiterfamilie in Kaiserzeit, Weimarer Republik und Faschismus im Zeitraum von 1884 bis 1948. Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Not und Entbehrung werden in anschaulichen Bildern geschildert. Vorlage des DEFA-Films „Die Buntkarierten“, für den Waterstradt 1949 den Nationalpreis der DDR II. Klasse erhielt. |Von Berta Waterstradt | Mit Roma Bahn, Ann Hölling, Else Brückner u.a. |Komposition: Ferry Muhr/Oskar Wilhelm Jerochnik | Regie: Hanns Farenburg |Berliner Rundfunk 1948

Hier in der Audiothek hören.

1961: Totentanz

Der Tod tritt nicht als Knochenmann mit Sense auf, sondern als Passant, der in einem ausgeblichenen Regenmantel und mit Schirmmütze durch eine verkehrsreiche Großstadtstraße flaniert. Da und dort spricht er Menschen an, die ihn nicht verstehen, nennt ein unverständliches Datum – alles mit der Bestimmtheit eines Richters. Er ist derjenige, der über jeden ein Urteil zu sprechen hat: das Todesurteil. Der Schriftsteller und Regisseur Martin Walser charakterisierte Weyrauch 1962 als „von allen mir bekannten Hörspielautoren der radikalste. Was er handeln und leiden lässt, handelt und leidet lediglich als Stimme. Der Schleichweg zur Szene bleibt unbenutzt. Das Mikrofon ist nie ein bloßes Übertragungsmittel, sondern der einzig mögliche Ort für die Realisierung dieser Texte.“ Totentanz wurde mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden 1962 ausgezeichnet. |Von Wolfgang Weyrauch | Mit Robert Graf, Richard Münch, Hans-Helmut Dickow u.a. | Komposition: Johannes Aschenbrenner | Regie: Martin Walser |NDR/BR 1961

Hier in der Audiothek hören.

1968: Stimmen über dem Fluss

Die Stimmen über dem Fluss, die Stimmen der Toten, die sich und dem jungen Mann an Bord des Schleppers "Leben" ihre Vergangenheit erzählen, sind alles andere als deprimierend. Dieser junge Mann, der gerade ins Wasser gesprungen war, um zu sterben, was weiß er schon vom Leben? Nur gut, dass ihn der Schlepperkapitän wieder herausgezogen hat aus den Wellen und ihn auch jetzt noch beschützt vor den scharfen, suchenden Blicken der Wasserpolizei, die den Frieden aller stört. Wie kann man ein Leben wegwerfen, mit dem man nur ein bisschen herumgespielt hat und das man gar nicht kennt? Der junge Mann lauscht den Stimmen über dem Fluss, hört sie wispern und rufen und singen, und er versteht plötzlich nicht mehr, weshalb er noch vor ein paar Stunden den Wellen folgte, die ihn zu sich riefen. | Von Wolfdietrich Schnurre | Mit Hans Mahnke, Klaus Herm, Walter Jokisch u.a. | Regie: Hans Bernd Müller | SFB/BR/RB 1968

Hier in der Audiothek hören.

1969: das gras wies wächst

Das Hörspiel weist im Gegensatz zu vielen anderen Sprachstücken eine Struktur vor, die sich an musikalischen Kompositionen orientiert. Motivvariationen, Krebsgang, Fuge, rhythmische und melodische Abläufe, Klangballungen und Generalpausen finden darin Verwendung. Trotzdem ist es ein reines Sprechstück geblieben. Seine semantischen Bezüge reichen in mehrere Bedeutungsschichten: sprichwörtliche und den Titel konkret ausdeutende, einmal in Richtung von "Drüberwachsen", das andere Mal von "Wuchern", womit auch sprachliches Wuchern gemeint ist. | Von Franz Mon | Mit Peter Fitz, Heiner Schmidt, Joachim Nottke, Gertraud Heise, Astrid Jacob u.a. | Regie: Franz Mon | SR/BR/WDR 1969

Hier in der Audiothek hören.

1975: Centropolis

Centropolis ist ein fiktives, verschärftes New York: Niemand ist hier mehr vor raubenden und plündernden Polizisten, vor blitzschnellen Autoknackern sicher. Die ständigen Straßenschlachten und Bandenkriege verhindern Post- und Mülltransporte, und was geschieht dem, der bei einem Verkehrsunfall oder auf andere Weise verletzt, aber mit brauchbaren Organen in die Klinik eingeliefert wird? Die allmächtige TV-Gesellschaft trägt dem Schauspieler Balt die Rolle des Ministerpräsidenten an. Die Zuschauer sind an den täglichen Auftritt des Politikers gewöhnt, darum werden Schauspieler und Statisten eingesetzt. Erst als Balt selbst ein Opfer der großen Manipulation wird, beginnt seine Frau Pat danach zu fragen, wem all diese Unternehmungen nützen, wer sie steuert, wer dafür bezahlt und für wen die vielen konservativen Organe bestimmt sind. Die Kunstkopf-Produktion "Centropolis" wurde 1976 mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. | Von Walter Adler | Mit Ernst Jacobi, Cordula Trantow, Eva Katharina Schultz, Hans Korte u.a. | Regie: Walter Adler | WDR/BR/SWF 1975

Hier in der Audiothek hören.

1997: Das Warheads-Oratorium

Krieg als Beruf, Krieg als Droge: 1989/1992 drehte Romuald Karmakar den Dokumentarfilm "Warheads". Hauptfiguren sind der Legionär Günter Aschenbrenner und der britische Söldner Karl. Aschenbrenner tritt 1958 in die französische Fremdenlegion ein. Er wird Fallschirmjäger und erreicht im Lauf seiner zwanzigjährigen Dienstzeit den höchsten Unteroffiziersgrad. Den Einsätzen im Algerienkrieg folgen Operationen im Tschad, in Djibouti, in der Republik Zentralafrika, in Kolwezi sowie Überseeaufenthalte auf dem Muroroa-Atoll und in Französisch Guayana. 1979 nimmt er einen neuen Auftrag bei einer deutschen Firma in Afrika an. Karl stammt aus Liverpool und ist seit 15 Jahren Söldner. Er war in Westafrika, Surinam und im Sudan. Im Dezember 1991 ist er an einem neuen Einsatzort: Gospic, Kroatien. Die elektronisch verfremdeten Original-Töne und harten Techno-Rhythmen von Kalle Laar und Georg Zeitblom kommentieren die Erzählungen nicht, sondern verstärken, ergänzen und konterkarieren sie. | Von Romuald Karmakar/Michael Farin | Mit Manfred Zapatka, Günther Aschenbrenner, Karl Penta | Komposition: Kalle Laar/Georg Zeitblom | Realisation: Romuald Karmakar/Bernhard Jugel | BR 1997 Hier in der Audiothek hören.

2003: ding fest machen

"Meine Emotionen sind meiner Körpergröße nicht angemessen. Deshalb stören sie mich. Deshalb übertrage ich sie", sagte Louise Bourgeois 1999 in einem Interview. Die Bildhauerin, geboren 1911, erreicht im hohen Alter mit ihrem Werk weltweit große Anerkennung. Seit den achtziger Jahren zählt sie zu den bekanntesten Künstlerinnen der Gegenwart. Wie uralte, über Jahrhunderte verlassene Stätten erinnern ihre Skulpturen und Installationen an die Vergänglichkeit der Dinge, gleichzeitig sind sie vertraut wie ein Traum, der einem wieder in den Sinn kommt. Es gibt kaum ein Material, das die Künstlerin nicht bearbeitet und gleichzeitig bezwungen hat: Brot und Spucke, Federn und Tücher, Stahl und Bronze, Marmor und Stein, Latex, Gips, Holz, Klebstoff. An der Vielfalt der Formensprache und der verwendeten Materialien orientiert sich die Komponistin Ulrike Haage. Sie stellt in einem großen Monolog Texte der eigenwilligen Bildhauerin zu Werk und Leben vor. Tagebücher und Aufzeichnungen, zahllose Interviews, begleitende Texte zum bildhauerischen Werk, Poeme und Klangtexte von Louise Bourgeois fließen in die Komposition des Hörstücks ein, das sich mit den zentralen Themen ihres Lebens befasst: der Auseinandersetzung mit dem Vater, mit der Mutter, dem Exorzieren der Vergangenheit und unbewältigten Emotionen. | Von Ulrike Haage | Nach Aufzeichnungen von Louise Bourgeois | Mit Monica Bleibtreu, Judith Engel, Benedicte Savoy, Martin Wuttke | Komposition und Realisation: Ulrike Haage | BR 2003 Hier in der Audiothek hören.

2006: Ein Menschenbild, das in der Summe Null ergibt

Einen Schritt vortreten. Vor das Bild. Vor die Kulisse. Etwas lauter sein müssen, aber allein. Selbstdarstellung - ohne Publikum. Schorsch Kamerun lässt Menschen auf- und antreten, die eine dunkle Kammer öffnen. Fast freiwillig. Und aus ihrem Dasein plaudern. Fast immer echt. Um herauszufinden, ob es uns noch möglich ist, nach Wünschen zu handeln – oder ob wir ausschließlich auf Angebote reagieren. Ob die Weißgesichtigkeit rechts, links und in der Mitte vielleicht doch nur Fassade ist, unter der sich Profile verstecken. Natürlich haben alle vorgestellten Originalton-Spender und Monolog-Führer rein gar nichts miteinander zu tun. Sie sind nur Nachbarn in einem endlosen Reigen. Eine Mischung aus Glitzer-Revue und Laientheater. Der Showmaster im Baustellenimbiss.| Von Schorsch Kamerun | Mit Fabian Hinrichs, Mila Dargies u.a. | Komposition und Regie: Schorsch Kamerun| WDR 2006 Hier in der Audiothek hören.

2011: Testament – Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear (online ab 28.6.)

Als Shakespeares König Lear versucht, sein Reich an seine drei Töchter zu vermachen, scheitert er fatal. Das verwundert nicht. Denn von allen Tauschgeschäften, in die wir jemals verwickelt werden, ist das zwischen den Generationen das undurchsichtigste. Die Parteien sind irritiert durch allerlei Details wie Schmuckstücke, Stammbäume, Erbfolgen, Erbkrankheiten, Liebesschwüre, Pflegepläne und Schuldgefühle. She She Pop bitten ihre eigenen Väter ins Hörspielstudio und eröffnen einen utopischen Prozess: den Ausgleich zwischen den Generationen. | Von She She Pop  | Mit Theo Papatheodorou, Joachim Bark, Peter Halmburger, Ilia Papatheodorou, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Sebastian Bark | Komposition: Max Knoth/Christopher Uhe | Regie: She She Pop | Deutschlandradio 2011

2014: Qualitätskontrolle oder warum ich die Räuspertaste nicht drücken werde (online ab 28.6.)

Ein junges Mädchen springt im Urlaub mit dem Kopf voran in den Pool – auf der Nichtschwimmerseite. 20 Jahre später erzählt die Erwachsene – von einem Leben in Körperlosigkeit, von Hilfsbedürftigkeit und Selbstbehauptung. "Ich habe nie gefragt, warum mir das passiert ist. Warum ich vor 20 Jahren zur Feier meines Abiturs mit meinen Eltern aus Stuttgart nach Kreta flog. Warum ich in den Pool der Ferienanlage sprang. Das war die letzte Bewegung, zu der ich meinen Körper antreiben konnte. Seitdem herrscht Funkstille zwischen uns, von den Schultern abwärts. Ich wurde von meinem Vater am Rand des Pools beatmet. Ich wurde gefragt, ob ich überhaupt leben wollte. Ich wollte unbedingt. Ich wollte weitermachen. Ich lebe fröhlichen Hauptes." | Von Helgard Haug/Daniel Wetzel | Mit Maria-Cristina Hallwachs, Timea Mihály, Admir Dzinic, Eike Hallwachs, Claudine Hallwachs, Detlef Glätzer | Komposition: Barbara Morgenstern | Regie: Helgard Haug/Daniel Wetzel | WDR 2014