2. Mai 1960 Kaufhaus Schocken in Stuttgart abgerissen
Das Auge kauft mit! Das gilt nicht nur für die Ware, sondern für das Shoppingerlebnis insgesamt. Das denkt sich Salman Schocken und baut seine Kaufhäuser zu architektonischen Meisterwerken aus. Autorin: Leo Hoffmann
02. Mai
Montag, 02. Mai 2016
Autor(in): Leo Hoffmann
Sprecher(in): Andreas Wimberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Was macht man, wenn ein architektonisches Highlight der Straßenführung im Weg steht? Ganz klar: Man reißt es ab! So geschehen in Stuttgart im Frühjahr 1960. Was da einer automobilgerechten Verbreiterung der Eberhardstraße im Wege stand? Ach, nichts Besonderes! Lediglich eins der schönsten Kaufhäuser Deutschlands: Das Kaufhaus Schocken.
Außen ein ausgeklügeltes architektonisches Spiel aus Beton und Glas, aus Hell und Dunkel, aus miteinander in Spannung stehenden Proportionen. Innen Urahn aller modernen Shopping-Tempel! Ein magischer Anziehungspunkt für Kunden aus Arbeiterklasse und Mittelstand. Denn die sind es, denen die Bauherren Salman und Simon Schocken in den Filialen ihrer deutschlandweiten Warenhauskette den massenhaften Konsum näher bringen.
König Kunde
Nicht ohne Grund: Die Gebrüder Schocken sind die ersten, die in Deutschland ein "Warenprüfungslaboratorium" errichten. "In unserem Hause", so Salman Schocken, "gibt es keine Ware, die nicht chemisch und physikalisch untersucht worden ist." Die Gebrüder Schocken erfinden die Qualitätskontrolle, die heute in aller Munde ist. Sie sind auch die ersten, die die Waren ihrer Häuser en gros einkaufen - für alle Häuser dasselbe Sortiment. Schlussverkauf, Weiße Woche oder 99-Pfennig-Tage erwartet man bei ihnen vergebens. Statt auf den Wellen wechselnder Sonderangebote zu surfen, setzen sie auf dauerhafte Kundenbindung.
Bei uns kaufen Sie richtig!
Salman Schocken beauftragt für seine Kunden nicht nur ästhetisch beispiellose Betongebäude, er errichtet auch umwälzende Gedankengebäude: Markt- und Qualitätsanalyse, Einschätzung von Standortfaktoren und Konsumverhalten. Ihm verdanken wir die Grundlagen der modernen Marktforschung.
"Der Einzelhandel ist noch immer nach den Köpfen einiger Wirtschaftler und politischer Führer ein Beruf ohne Charakter. Aber so liegen die Dinge nicht", so Schocken auf einer Pressekonferenz. Leider irrt er: Die Dinge liegen genau so, nämlich ohne Charakter. Schocken wird enteignet und emigriert nach Palästina.
Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass der Zweite Weltkrieg nur wenige der brillanten Bauten der Neuen Sachlichkeit, die in den 20er und 30er Jahren entstanden waren, verschont. Man sollte ebenfalls erwähnen, dass der Architekt des Stuttgarter Schocken kein ‚drhergloffener seckl’ war, sondern ein Shooting Star der Szene, ein Vorreiter der Streamline-Architektur, ein Visionär, dem Walter Gropius und Mies van der Rohe das Wasser reichten: der jüdische Architekt Erich Mendelsohn. Man sollte sie aufzählen, die Protestnoten der Haute-Volée der Architektur, die sich auf dem Schreibtisch des Stuttgarter Bürgermeisters türmen, als ruchbar wird, dass er das Schocken abreißen will. Allein der lässt sich nicht beeindrucken. Am Morgen des 2. Mai 1960 fahren Seilbagger mit Abrissbirnen in der Eberhardstraße vor. "A Schwabestreich"sagen die einen, die anderen nennen’s blinde Zerstörungswut!