10. November 1914 Langemarck - Geburt eines Mythos
Erster Weltkrieg, Westfront: Es war ein grauenvolles Himmelfahrtskommando im beginnenden Stellungskrieg. Autor: Christian Feldmann
10. November
Dienstag, 10. November 1914
Autor(in): Christian Feldmann
Sprecher(in): Andreas Wimberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Es war alles ganz anders. Anders, als im November 1914 in sämtlichen deutschen Zeitungen auf der ersten Seite zu lesen war: "Kommuniqué der Obersten Heeresleitung: Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles’ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. "
Müde, hungrig, unerfahren
Richtig an dieser Propagandameldung war eigentlich nur, dass an der Westfront der Stellungskrieg zwischen den deutschen Truppen und ihren französischen und britischen Gegnern begonnen hatte. Die schlecht ausgerüsteten deutschen Soldaten buddelten sich in ihren Schützengräben ein, brachen alle paar Tage in einer tollkühnen Aktion aus, um unter gewaltigen Verlusten wieder einen Kilometer vorzurücken und den einen oder anderen Bauernhof auszuplündern. Denn die Verpflegung war miserabel und der Nachschub funktionierte nicht.
Einer dieser Vorstöße erfolgte am 10. November 1914 um halb sieben Uhr morgens in der Nähe der belgischen Stadt Ypern. Dort lagen neu aufgestellte deutsche Reservekorps, darunter viele unerfahrene junge Kriegsfreiwillige. Es war noch stockfinster, da verließen die Soldaten auf ein Pfeifensignal hin ihre Gräben, bahnten sich mit aufgepflanzten Bajonetten mühsam einen Weg durch aufgeweichte Rübenäcker, um die nächste Hügelkette zu erstürmen. Ein Himmelfahrtskommando. Denn von der Höhe herab nahmen sie erfahrene britische Truppen unter Maschinengewehrfeuer, mähten die orientierungslos Anstürmenden nieder, zerschossen und zerfetzten die ganze Kompanie, ohne auf nennenswerte Gegenwehr zu stoßen.
Nichts stimmt also an dem protzigen Bericht der Obersten Heeresleitung. Nicht mal der Name der Ortschaft, denn das Dorf Langemarck lag weiter weg, klang aber markant und teutonisch, an Bismarck erinnernd, und auf jeden Fall besser als Bixschote oder Ypern.
Gesungen werden sie auch nicht haben, die Soldaten, die mit einer 30 Kilo schweren Ausrüstung über nassen schweren Lehmboden rannten, die Hand nicht vor den Augen sahen und sich völlig zu Recht als Kanonenfutter fühlten.
Zu Helden verklärt
Vor allem aber: Der Vorstoß war der mörderische Irrtum einer dilettantischen Führung. Man hatte den jungen Soldaten keine Drahtscheren mitgegeben, um die Zäune auf den finsteren Rübenfeldern zu überwinden, sie hatten viel zu wenige Spaten, um sich im steinigen Boden sicher einzugraben, sie hatten kaum Munition und nicht gelernt, sich vor feindlichem Feuer zu schützen. "Wir hatten uns unsere Feuertaufe anders vorgestellt", schrieb ein Überlebender entsetzt nach Hause.
Aber Armeegeneräle, Zeitungsredakteure, Schuldirektoren funktionierten die Niederlage zum moralischen Sieg um: "Die Helden sangen", so hieß es in einem von Studentenverbänden aufgeführten Weihespiel. "Der Siegatem wehte, / als singend die Knaben / zum Sturme schritten.“ Adolf Hitler schrieb in "Mein Kampf" vom Langemarck-Mythos ab, er will ebenfalls so eine "feuchte, kalte Nacht in Flandern" miterlebt haben, mit einem Angriff quer über die Felder:
In die Maifeld-Tribüne des Berliner Olympiastadions bauten die Nazi-Architekten eine "Langemarckhalle" ein, mit Erde vom Schlachtfeld und einer Inschrift von Hölderlin: "Lebe droben, o Vaterland / und zähle nicht die Toten!"
Die einzige positive Auswirkung des morbiden Mythos war vielleicht das "Langemarck-Studium", das Arbeiter- und Bauernsöhne aus kinderreichen Familien ohne Abitur in einer Art Schnellkurs zur Universität führte.