19. Oktober 1878 Bismarcks Sozialistengesetz wird verabschiedet
Einfach verbieten alle diese Störenfriede! - wollte Reichskanzler Otto von Bismarck, wenn er an die Sozialdemokraten dachte. Attentate auf den Kaiser gaben ihm endlich den Vorwand. Autorin: Brigitte Kohn
19. Oktober
Mittwoch, 19. Oktober 2016
Autor(in): Brigitte Kohn
Sprecher(in): Andreas Wimberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Frühsommer 1878. Zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. erschüttern die deutsche Öffentlichkeit im Abstand weniger Wochen. Der greise Monarch überlebt, wird aber beim zweiten Mal schwer verwundet. Beide Täter sind geltungssüchtige Psychopathen, die mit der Sozialdemokratie nichts zu tun haben. Trotzdem bricht nun eine beispiellose Hatz gegen alles aus, was links und monarchiekritisch sein könnte. Eine Welle von Prozessen wegen Majestätsbeleidigung überzieht das Land, jedes unbedachte Wort kann zu langen Haftstrafen führen.
Schuld an der Hysterie ist Reichskanzler Otto von Bismarck. Er hasst die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 im Zuge der schnellen Industrialisierung zu einem neuen Machtfaktor geworden ist. Bismarck verbreitet also die Falschmeldung, dass die Attentäter Sozialdemokraten gewesen seien. Dadurch gelingt es ihm, das politische Klima so zu manipulieren, dass die liberale Fraktion im Reichstag ihren Widerstand gegen ein lange geplantes Gesetz aufgibt – das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". Am 19. Oktober 1878 wird es verabschiedet. Mit dem Mut der Verzweiflung ruft August Bebel, der Wortführer der kleinen sozialdemokratischen Fraktion, dem Reichstag zu: "Sie können uns gar nicht besser nützen als durch Annahme des Gesetzes. (…) Wir sind in wenigen Jahren stärker als je zuvor. (…) Es wird in einer Weise gegen Sie wirken, wie Sie es nicht erwarten."
Bebel sollte Recht behalten. 12 Jahre lang wird die Ära des Sozialistengesetzes dauern. 12 Jahre lang ist damit jeder Verein, jede Versammlung von Sozis, jede ihrer Druckschriften illegal, 12 Jahre lang werden ihre Aktivisten auf Schritt und Tritt beschattet und des Landes verwiesen. Die Not der Genossen ist zwar groß, aber sie schweißt sie zusammen, statt sie zu vernichten. Der Einfallsreichtum beim Austricksen der Polizeispitzel wird immer größer.
Man gründet Gesangsvereine und Skatclubs, in denen heimlich Politik betrieben wird, man verlegt die Parteipresse ins Ausland und schmuggelt die Zeitungen ins Reich, man beteiligt sich weiterhin an den Wahlen und nutzt die parlamentarische Bühne als Mittel zur Agitation. Bismarck hat das Wahlrecht nicht angetastet, das hat er nicht gewagt.
Und tatsächlich formiert sich jetzt erst die Partei, wird jetzt erst eigentlich zur Heimat für die vielen Menschen, die Bismarck als Reichsfeinde abgestempelt hat. Und wenn der Reichskanzler gehofft hat, die Verfolgten würden zu den Waffen greifen und er könne zurückschießen lassen, so sieht er sich enttäuscht. Die Sozialdemokraten lassen sich nicht provozieren. "Im Kampf für Freiheit suche stets dein Recht" - so lautet ihr Wahlspruch.
Das Konzept geht auf. Bei den Wahlen verzeichnen die Sozialdemokraten rasante Stimmengewinne. Bismarck versucht es nun mit einer Umarmungsstrategie. Zwischen 1883 und 1889 bringt er eine Sozialversicherung auf den Weg, die einmalig ist in Europa und heute als Geburtsstunde des Sozialstaates gilt. In der Praxis fallen die Leistungen allerdings dürftig aus, die Arbeitsbedingungen bleiben kläglich, und Bismarcks Taktik läuft ins Leere. Im Jahre 1890 findet das Sozialistengesetz im Reichstag keine Mehrheit mehr und wird zu Fall gebracht, begleitet von einem grandiosen Wahlerfolg. Überall im Land liegen sich die Genossen in den Armen, veranstalten Freudenfeiern. Der Widerstand gegen das Sozialistengesetz gehört zur Erfolgsgeschichte der Partei, und sie ist stolz darauf, bis heute.