20. April 1914 Letzter datierter Brief von Jung an Freud
Der letzte Brief von Carl Gustav Jung an Sigmund Freud vom 20. April 1914 handelte nur noch Belanglosigkeiten ab. Vorausgegangen war ein Kampf von Alphatieren, ein Ringen um Götter und Könige und eine Ohnmacht Freuds. Autorin: Astrid Mayerle
20. April
Mittwoch, 20. April 2016
Autor(in): Astrid Mayerle
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Alphatiere - sie sind die ganz Großen im Tierreich. Im Unterschied zu Blendern, die sich mit fremden Federn schmücken, können sie wirklich was. Zebrahengste etwa leiten dutzende Artgenossen sicher durch die Savanne. Bei den Rindern werden Alphatiere auch “Leitbullen“ genannt. Ein Alphatier zeichnet sich dadurch aus, dass es sich nicht so leicht decouragieren lässt.
Gnadenlose Konkurrenz
Im Tierreich treffen zwei Leitbullen selten aufeinander, bei den Menschen dagegen schon eher. Hier sind es die Klügsten, die Schönsten, die Besten. Sie stehen in gnadenloser Konkurrenz - dazu folgende Begegnungen. Berühmter Fall: die Philosophen Theodor W. Adorno und Elias Canetti. Im Jahr 1962 wollen sich die beiden unterhalten - über Massenphänomene und Macht. Adorno, der eigentlich nur fragen will, liefert ständig erschöpfende Thesen und markiert den welt- und alles umspannenden Weitreichtum seiner unfassbaren theoretischen Aktionsradien. Canetti dagegen flüchtet in mikroskopische Beobachtungen seines Makrokosmos. Das Ergebnis: zwei als Gespräch getarnte Monologe.
Ganz anders Madonna und Britney Spears: Die beiden Rockladies lieferten sich 2003 ein Lippenbekenntnis besonderer Art. Sie küssten sich - angeblich spontan - bei den MTV Video Music Awards auf der Bühne. Dieses für Alphatiere besonders intime Ereignis katapultierte beide gleichzeitig schlagartig im Ranking über den "Kuss des Jahrzehnts" ganz nach oben. Nicht immer allerdings nimmt ein Aufeinandertreffen weiblicher Alphatiere ein so harmonisches Ende wie bei Madonna und Britney. April 1957: die beiden Filmdiven Sophia Loreen und Jayne Mansfield begegnen sich im "Romanoffs", Beverly Hills, beide üppig dekolletiert. Sophia wirft der umwerfend drapierten Mansfield den ganzen Abend lang von der Seite nur kühle Blicke zu und schenkt ihr zum Abschied ein dem Gefrierpunkt sehr nahes Lächeln.
Vatermord?
Was aber passiert erst mit solchen Exemplaren, die sich ihrer Alphatierhaftigkeit ganz und gar bewusst sind, also etwa mit Psychologen wie C.G. Jung und Sigmund Freud? Es muss sich etwa so begeben haben: Freud und Jung kannten sich bereits einige Jahre. Bei einem Treffen mit mehreren Kollegen erzählte Jung beiläufig vom ägyptischen König Echnaton. Der wollte den alten Götter-Chef Amun aus dem Gedächtnis der Ägypter auslöschen und statt dessen eine völlig neue Religion schaffen, für die er selbst der höchste Vermittler war. Während der Geschichte schwanden Freud plötzlich die Sinne und er fiel in Ohnmacht. Witterte er Vatermord? Kein Problem für Jung, der den älteren Freud umgehend zu einer Analyse einlädt. Doch Freud kontert in einem Brief: Der Zwischenfall sei völlig unerheblich gewesen, es hätte sich nur um eine so genannte ophthalmoplegische Migräne gehandelt. Spätestens von da an haben es die beiden nicht mehr leicht miteinander: Es gilt, eine offensichtliche Autoritätseinbuße zu bewältigen, was Freud nicht wirklich gelingt. Bis zum letzten unpersönlichen Brief Jungs an Freud, datiert auf den 20. April 1914.
Die beiden Psychologen liefern in der Typologie der Alphatierbegegnungen zweifellos den interessantesten, weil absurdesten Fall. Denn wenn eines einer solchen Spezies ganz und gar unmöglich ist, dann genau das: sich von einem zweiten Alphatier auf den Grund der Seele blicken zu lassen - man stelle sich vor: Gott Amun in Therapie bei Echnaton!