20. September 1898 Kaiser Wilhelm II. schießt 1000. Hirschen
Sein Jagdeifer war berüchtigt und wahrscheinlich die Folge einer dramatischen Geburt: Allein bis zum 20. September 1898 erlegte Kaiser Wilhelm II. tausend Hirsche - so rühmt jedenfalls ein Gedenkstein in der brandenburgischen Schorfheide.
20. September
Montag, 20. September 2010
Autor(in): Thomas Morawetz
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Redaktion: Jeanne Turczynski / Wissenschaft und Bildung
Es gibt Gedenksteine, die liegen richtig schwer im Magen. Zum Beispiel der in der brandenburgischen Schorfheide, einem der größten zusammenhängenden Waldgebiete Deutschlands, rund 70 Kilometer nordöstlich von Berlin. Der Gedenkstein im lichten Wald ist ein grobkantiger Block mit polierter Front. Auf dem steht in goldener Gravur:
"Unser durchlauchtigster Markgraff und Herre Kaiser Wilhelm II. faellte allhier am 20. IX. anno domini 1898 Allerhöchst Seinen 1000. Edel Hirschen von 20 Enden."
Tausend Hirsche! Vier Jahre später unterrichtet das Hofjagdamt die Presse, dass der "Herre Kaiser" es inzwischen auf 47.443 Stück Wild gebracht hat. Und das sind keine Notizen aus der Krankenakte eines psychisch angeschlagenen Herrschers, sondern offene Jubelschreie. Hurra! Unser Kaiser!
Doch ganz ohne Hintergedanken jubeln auch die Zeitgenossen nicht. Denn irgendwie ist dieser Kaiser ja krank, finden sie jedenfalls selbst. Zwar nicht geistig krank, aber sein linker Arm ist weitgehend gelähmt und verkümmert. Die Folgen einer schweren Geburt. Der kleine Prinz hatte sich in einer Steißlage befunden, die Mutter Victoria, selbst Tochter der Königin Victoria von England, schrie stundenlang vor Schmerz, bis sie mit Chloroform völlig betäubt wurde. Der Winzling wurde zur Welt gebracht, indem man seinen linken Arm als Hebel benutzte, um ihn zu drehen. Als das Kind geboren war, atmete es nicht. Die Hebamme schlug es zum Entsetzen der Umstehenden mit einem nassen Handtuch ins Leben.
Hurra! Jetzt hat Preußen und später Deutschland einen Thronfolger. Doch die Eltern jubeln nicht. Bald stellt sich die Behinderung des Prinzen heraus. Die Behandlungen beginnen. Zuerst noch harmlos: ein Heilkundiger der alten Schule. Er lässt den schlaffen Arm in warme Bäder einlegen, in denen frisch geschossene Hasen ausbluten. Oder eine bekannte Schlafwandlerin: Sie hat in Trance einen Magnetiseur gesehen, der den Kleinen heilen könne. Alle Ärzte mühen sich erfolglos. Derweilen wird der rechte, gesunde Arm des Zweijährigen stundenlang festgebunden, damit er endlich anfängt, den linken zu benutzen. Der Kleine versucht sich so heftig dagegen zu wehren, dass es der Mutter mulmig wird.
Mit sechs Jahren wird er operiert. Skizzen zeigen einen kleinen Wilhelm, eingespannt in Armstreck- und Kopfstreckmaschinen. Am Ende wird mit Elektrisierung behandelt. Ungefährlich, heißt es, solange die Schmerzen oder die Angst vor den Schmerzen das Nerven- und Verdauungssystem nicht beeinflussen.
Der kleine Wilhelm wird trotzdem groß - und deutscher Kaiser. Autoritätsfiguren hasst er. Er lässt sich nichts mehr sagen. Den alten Bismarck, Reichskanzler und Reichseiniger, wirft er raus, so schnell es geht. Und macht alles anders. Deutschland braucht jetzt auf einmal Kolonien in Übersee, einen Platz an der Sonne, und dafür die Flotte einer Weltmacht. Dass er damit die Feindschaft Englands heraufbeschwört, nimmt er hin. Er will es allen zeigen. Wer er ist, er Wilhelm, ein ganzer Mann, ein starker Mann.
Zu seinen liebsten Beschäftigungen gehört die Jagd. Reviergänge nach festem Zeremoniell. Er legt nur auf die besten Stücke an, und die Jagdgesellschaft staunt. Ein Zeuge berichtet: "Er schoss mit Doppelbüchsen, und da sein linker Arm bekanntlich gelähmt war, hielt er das Gewehr beim Schießen nur mit der rechten Hand … Es war für mich ein Genuss, dieser Schießfertigkeit des Kaisers zuzusehen." Der Kaiser freut sich. Am Ende der Jagd gibt es reichlich Hausorden für alle Beteiligten, für den großen Jäger einen Gedenkstein und ein paar Jahre später für Deutschland einen Weltkrieg. Hurra.