23. März 1900 Erich Fromm geboren, Kritiker Freuds
Die Massen begeisterte er leichter als seine akademischen Kollegen. Erich Fromm, geboren am 23. März 1900, hat sich sein Leben lang scheinbar schlüssigen Denkmustern entzogen. Er war einer der einflussreichsten Psychoanalytiker des 20. Jahrhunderts.
23. März
Mittwoch, 23. März 2011
Autorin: Claire-Lise Buis
Sprecher: Andreas Wimberger
Redaktion: Thomas Morawetz / Wissenschaft und Bildung
Der Junge studiert den Talmud, verweilt eine Zeit lang in den Bibliotheken der juristischen Fakultät Heidelbergs. Max Weber und Sigmund Freud liest er jedoch lieber als die Gesetzbücher. Die Lehre Webers, die Soziologie, fasziniert ihn - genauso wie die Entdeckung des Unbewussten durch die Psychoanalyse. Für die Eine geht es um die Gruppe; für die Andere um die Seele jedes Einzelnen. Doch Erich Fromm ahnt es schon: So widersprüchlich, wie es scheint, sind die beiden Ansätze nicht. Die Intuition des Studenten wird zur lebenslangen Aufgabe. Er wird Psychoanalytiker und bemüht sich dabei, neben der Arbeit mit Patienten, die Wechselbeziehung zwischen den Strukturen der Gesellschaft und dem psychischen Leid des Individuums zu verstehen.
Brücken schlagen, sich von Denkmustern befreien: Das kann Erich Fromm besonders gut. Auf seinem Lebensweg von Deutschland bis in die Schweiz, über Amerika und Mexiko, löst er sich von zahlreichen Orthodoxien. Zunächst der Jüdischen: Eines Tages beißt er genüsslich in eine Bratwurst. "Gerechtigkeit tun, die Wahrheit sagen, den Mitmenschen lieben. Das ist alles", sagt er später über seine Auffassung des religiösen Lebens.
Die Theorie Freuds ist für ihn ebenfalls kein unantastbares Dogma. Nach Lehranalysen bei Schülern des großen Meisters gründet Fromm mehrere Institute, betreibt eine eigene Praxis. Doch von der übergeordneten Rolle der Libido ist er nicht überzeugt. Der Mensch sei keineswegs, wie Freud behauptet, von natürlichen Trieben gesteuert. Das, was Fromm "Charakter" nennt, wurzelt viel mehr in der familiären und sozialen Umwelt. Den Vater als einzige Figur der Autorität zu sehen, sei ein weiterer Irrtum konservativer Freudianer.
Und Fromm distanziert sich von einer dritten Orthodoxie: dem Marxismus. Er schätzt Marx als säkularen Utopisten. Abscheulich findet er allerdings den Kommunismus. Genauso wie der Kapitalismus sei er ein Ergebnis des Neids, des Triumphs des Habens über das Sein.
Der Freigeist heiratet drei Mal, liebt und trennt sich noch öfters. Er hat Freunde und Feinde, insbesondere unter den selbsternannten Wächtern der Wahrheit. Als er Anfang der 1930er-Jahre Deutschland verlässt, gehört er dem Institut für Sozialforschung um den Sozialphilosophen Max Horkheimer an. Mit dem Kollegen Adorno gibt es jedoch Verstimmungen. Finanzielle Schwierigkeiten dienen als Vorwand, ihm 1939 den Vertrag zu kündigen. Es wird lange dauern, bis Fromms Beitrag zur sogenannten "Kritischen Theorie" der Frankfurter Schule anerkannt wird.
Und es sind viele, die Fromm theoretische Unzulänglichkeit vorwerfen. Tatsächlich kann der Autor besser die Massen begeistern als die akademische Elite. Er wird zum Liebling der Friedensbewegung, schreibt Bestseller über die Konsumgesellschaft, über die Liebe - eine "Kunst", meint er - und über unseren leichtsinnigen Umgang mit der Umwelt. Naiv-gutwillig, lästern Feuilleton-Redakteure zu seinem 100. Geburtstag. Fromm wäre es ziemlich egal gewesen. Wir sollten aufhören, uns selbst mit Marketing-Strategien verkaufen zu wollen, so der Analytiker.
Seinen Lebensabend verbringt er im Tessin. Kurz vor seinem Tod 1980 sagt er noch über seine Herkunft als das Einzelkind von neurotischen Eltern: "Ich habe versucht, die Schäden einigermaßen zu reparieren".